Beitrag im Newsletter Nr. 22 vom 5.11.2020

Teilhabe durch Engagement junger Migrant*innen in Ostdeutschland

Ines Callsen und Olaf Ebert

Inhalt

Zur Stärkung von Vielfalt und Toleranz
Ausgangssituation und Handlungsbedarf
Teilhabe durch Engagement – ein Thema in Ostdeutschland?!
Gedenktag in Halle am 9. Oktober 2020
JUGENDSTIL* - Verstärker für junges, migrantisches Engagement in Ostdeutsch-land
Autor*innen
Redaktion

Zur Stärkung von Vielfalt und Toleranz

Halle (Saale), 9. Oktober 2020: Kein Tag wie jeder andere. Denn an diesem Tag gedenkt Halle der Opfer und Betroffenen des Anschlags im Jahr zuvor. Ein Tag der schmerzlich zeigt, wie wichtig die Stärkung von Vielfalt und Toleranz in unserer Gesellschaft ist. Auch hier. Gerade hier?


»Ich rede mir zwar immer ein, wenn du genug Leistungen erbringst und immer die Anforderungen erfüllst, dann bekommt man eine gute Arbeitsstelle. Aber ich habe aufgrund meines Erscheinungsbildes die Angst, dass ich nicht dorthin komme wo ich hinwill. Aber ich denke da positiv, das wird schon und da hat sich ja schon Einiges getan.«

Sarah, 19 Jahre


Das Modellprojekt »JUGENDSTIL* - Teilhabe und Mitgestaltung junger Migrant*innen in Ostdeutschland« hat sich zum Ziel gesetzt, das Engagement vielfältiger, junger Menschen sichtbarer zu machen, Jugendinitiativen und den Aufbau Neuer Deutscher Organisationen in Ostdeutschland zu unterstützen. Gefördert durch das Bundesprogramm »Demokratie leben!« und die Bundesintegrationsbeauftragte stellt sich JUGENDSTIL* der Herausforderung junge, engagierte Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte einzuladen, gemeinsam neue Ansätze, Methoden und Strategien zur gesellschaftlichen Partizipation zu erkunden.

Die Stiftung Bürger für Bürger, Trägerin des Modellprojekts, bringt dabei das große Interesse an gesellschaftlichem Diskurs zu bürgerschaftlichem Engagement mit, der Kooperationspartner DaMOst - Dachverband der Migrant*innenorganisationen Ostdeutschlands - bereichert JUGENDSTIL* mit Expertise und Erfahrungen für migrantische Selbstorganisationen und Verbandsstrukturen.

Ausgangssituation und Handlungsbedarf

Die gesellschaftliche Situation ist in Ostdeutschland von widersprüchlichen Entwicklungen geprägt: Einer Vielzahl von Menschen und Organisationen, die sich für Demokratie engagieren, stehen viele Menschen gegenüber, die lautstark gegen Zuwanderung demonstrieren, Hass und Hetze unterstützen und teilweise gewalttätig gegen Zugewanderte vorgehen.

Durch die lange Zeit kaum vorhandene Arbeitsmigration fehlt es hier häufig an interkulturellen (Alltags-)Erfahrungen, interkulturell offenen Organisationen. Zudem ist der Anteil der Migrant*innen hier stark durch nachziehende Familienangehörige, Asylbewerber*innen und Geflüchtete geprägt, es wird die Vielfalt in der Zuwanderung verkannt. Nach 30 Jahren gesellschaftlicher Transformation haben sich in Ostdeutschland spezifische zivilgesellschaftliche Strukturen entwickelt: ehemalige DDR-Vertragsarbeiter entwickelten für sich und ihre Familienangehörigen nicht nur neue Existenzgrundlagen, durch Migrantenselbstorganisationen stärkten sie zugleich auch den Zusammenhalt untereinander und unterstützen das Ankommen in der auch für sie neuen Gesellschaft. Eine bedeutende Rolle spielte auch die Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Durch die sogenannten »Jüdischen Kontingentflüchtlinge« wuchsen die bis dahin sehr kleinen jüdischen Gemeinden in Ostdeutschland zahlenmäßig stark, sie veränderten oft auch ihren Charakter. In Neugründungen fand die Vielfalt der Strömungen ihren Niederschlag. Die »Deutschen aus Russland« gründeten eigene Vereinigungen, die sich in ihren Zielen und ihrer Zusammensetzung von den westdeutschen »Landsmannschaften« unterscheiden.

So entstanden auch in Ostdeutschland über 270 Migrantenorganisationen, die jedoch vor vielfältigen Herausforderungen in ihren rein ehrenamtlich getragenen Organisationsstrukturen stehen.

Teilhabe durch Engagement – ein Thema in Ostdeutschland?!

Viel zu wenig Beachtung finden bislang die Potentiale der jungen Migrant*innen, die als Kinder nach Ostdeutschland kamen oder hier geboren wurden und ihre schulische, berufliche oder akademische Bildung hier erlangten. Ihre Lebensentwürfe, Ansichten und ihre Verankerung in der deutschen Gesellschaft unterscheidet sich stark von der Großeltern- und Elterngeneration, deren Vereine für sie wenig attraktive Engagement- und Teilhabemöglichkeiten bieten.

In Ostdeutschland gibt es zwar eine starke Engagementbereitschaft, aber eine vergleichsweise niedrige Engagementquote und eine zu geringe Anzahl stabiler zivilgesellschaftlicher Organisationen, die jungen Migrant*innen Teilhabe durch Engagement ermöglichen.

Die Zivilgesellschaft ist in Ostdeutschlands stark fragmentiert, Migrantenorganisationen sind zu wenig, Neue Deutsche Organisationen gar nicht etabliert, anerkannt und in zivilgesellschaftliche Netzwerke vor Ort eingebunden. Zudem werden viele Migrant*innen hier vergleichsweise häufiger diskriminiert, bedroht oder Opfer von Gewalt.

Das Vertrauen in die Demokratie und die Überzeugung, durch die Entwicklung und Wahrnehmung von Teilhabechancen an dieser gestaltend mitwirken zu können, sind in vielen Regionen rückläufig.

Gleichzeitig entwickeln junge Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte, unter Anerkennung ihrer Wurzeln, ein neues Selbstbewusstsein, betrachten sich, auch im Ergebnis ihrer häufig erfolgreichen Bildungsbiographien, selbstverständlich als Deutsche – und suchen nach den Gründen für Ablehnung und Ausgrenzung, die sie besonders in Ostdeutschland immer noch viel zu oft im Alltag erleben.

Gedenktag in Halle am 9. Oktober 2020

Zum Gedenktag in Halle am 9. Oktober 2020 lud JUGENDSTIL* engagierte junge Gesellschaftsgestalter*innen und die Integrationsbeauftrage des Landes Sachsen-Anhalt Susi Möbbeck zum Austausch ein. Nicht nur Berichte von der Erfahrung und dem Umgang mit Alltagsdiskriminierung fand Raum, sondern auch die Selbstverortung der Teilnehmenden in der ostdeutschen Gesellschaft:


»Ich habe manchmal Angst, dass ich irgendwie nicht durchkomme, ich bin so eine Minderheit, meine Eltern kommen aus Vietnam und ich bin ein Mädchen. Vielleicht sehen mich die Menschen als schwaches Mitglied der Gesellschaft und das ist natürlich nicht schön, ich bemerke das oft im Alltag und ich möchte nicht, dass es noch weiter ausartet.«

Mai, 21 Jahre


Auffällig in diesem und vielen anderen Gesprächen ist, dass das gesellschaftliche Engagement von jungen Menschen, insbesondere Mädchen und Frauen mit Migrationsgeschichte, selbst oft gering geschätzt und zu wenig anerkannt wird. Dies geschieht insbesondere vor dem Hintergrund globaler Bewegungen wie Fridays For Future u. a.. Als weitere Hürden für Teilhabe durch Engagement wurden beispielsweise Zeitknappheit, Resignation gegenüber politischen Entscheidungsprozessen und die Abwertung ihrer Meinung durch die älteren Generationen benannt.

Als Bedarfe hingegen werden u. a. Mitstreiter*innen finden, Erfahrungsaustausch, unkomplizierte Finanzierung von Projektideen, Ansprechpartner*innen zu Themen wie beispielsweise Vereinsgründung, Selbstorganisation von Gruppen und thematische Fortbildungen formuliert.

JUGENDSTIL* - Verstärker für junges, migrantisches Engagement in Ostdeutschland

JUGENDSTIL* setzt hier an und möchte als Verstärker von jungem, migrantischem Engagement in Ostdeutschland wirken: Die JUGENDSTIL*-Beteiligungswerkstätten dienen als Orte des Erfahrungsaustausch und der Vernetzung. Hier können Visionen ausgetauscht, Pläne geschmiedet und Kompliz*innen gefunden werden. Darüber hinaus bieten die Beteiligungswerkstätten die Möglichkeit sich das Handwerkzeug anzueignen, das gebraucht wird, um die eigenen Ideen gemeinsam mit Anderen umzusetzen.

Der JUGENDSTIL*-Ideenfonds setzt am Bedarf nach niedrigschwelliger, direkter Förderung an und soll im Januar 2021 starten. Hier können junge Gesellschaftsgestalter*innen aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen unkompliziert Geldmittel beantragen, um Ideen weiterzudenken oder eigene Vorhaben umzusetzen. Ausgewählt werden die Ideen von einem Netzwerk aus jungen Expert*innen für (post)migrantisches Engagement – DIE GESTALTER*iNNEN. Diese Projektmacher*innen lassen ihr Erfahrungswissen aus der Praxis in die Entscheidung über Förderungen und die Begleitung der Projektideen einfließen.

Anknüpfend u. a. an den Ideenfonds sollen lokale Beteiligungsprozesse begleitet werden. Sie werden gemeinsam mit lokalen Mentor*innen-Netzwerken gestaltet und mit Qualifizierungs- und Beratungsangeboten unterstützt. Diese werden in Kooperation mit Partner*innen, idealerweise in einem peer-to-peer-Ansatz, realisiert.

Die Digitale Beteiligungsplattform macht Jugendinitiativen und aktuelle Projektentwicklungen sichtbar, kann aber auch als Inspirationsquelle sowie zum Austausch und als Vernetzungsplattform genutzt werden.

Überregionale Beteiligungswerkstätten sollen Engagierten und Multiplikator*innen Raum für Erfahrungsaustausch und Vernetzung geben. Gemeinsam mit Kooperationspartner*innen werden diese in einem offenen Format gestaltet, sodass eigene Themen und Diskussionen platziert werden können.

Die Vision von JUGENDSTIL*: In den nächsten vier Projektjahren bis 2024 starke junge, zivilgesellschaftliche Strukturen schaffen, die ihren Platz in einer (post)migrantischen, ostdeutschen Gesellschaft behaupten und durch starke Vorbilder zum Nachmachen inspirieren:


»Ich habe früher an der Schule immer Vorbilder vermisst. Alle Lehrer waren weiße Deutsche und ich habe immer nach Bezugspersonen gesucht, mit denen ich mich identifizieren kann. Und das ist mein Ziel für die Zukunft, dass ich so eine Person für Kinder und junge Menschen später sein kann. «

Lea, 19 Jahre



Beitrag im Newsletter Nr. 22 vom 5.11.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor*innen

Ines Callsen ist Leiterin des JUGENDSTIL*-Projekts.

Kontakt: ines@jugendstil-projekt.de

Olaf Ebert ist geschäftsführender Vorstand der Stiftung Bürger für Bürger.

Kontakt: o.ebert@buerger-fuer-buerger.de



Weitere Informationen:
Instagramprofil des JUGENDSTIL*-Projekts
Website der Stiftung Bürger für Bürger


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