Beitrag im Newsletter Nr. 1 vom 13.1.2022

(Noch) ungenutzte Gelegenheiten

Holger Backhaus-Maul

Kurzbesprechung der zweiten Expertise von WIDER SENSE (Berlin) und goetzpartners (München) zum gesellschaftlichen Engagement von DAX 40-Unternehmen

Die Beratungsunternehmen WIDER SENSE (Berlin) und goetzpartners (München) haben soeben ihre zweite Expertise zum gesellschaftlichen Engagement (Corporate Citzenship) börsennotierter Großunternehmen in Deutschland vorgelegt. Erstmalig wurden die Corporate Citizenship-Vorstellungen und -Aktivitäten von DAX 30-Unternehmen 2017 in den Blick genommen; 2021 wurden – mit der Erweiterung des DAX – nunmehr 40 Großunternehmen zum Gegenstand der Expertise.

Die Expertise basiert auf Sekundäranalysen öffentlich zugänglicher Dokumente sowie auf methodisch nicht weiter spezifizierten »qualitativen Interviews« mit thematisch zuständigen Mitarbeiter*innen der DAX 40-Unternehmen, von denen 28 zum Interview bereit waren und interviewt wurden; – eine sehr beachtliche Resonanz! Allein schon für diese weitreichende Erschließung eines sozialwissenschaftlich hochinteressanten, zugleich aber unternehmensseitig weitgehend abgedunkelten Feldes verdienen WIDER SENSE und goetzpartners hohe Anerkennung und Beachtung.

Zugleich aber stellen sich inhaltliche und methodische Fragen. Wie und warum unterscheiden die Autor*innen Corporate Citizenhip und Corporate Social Responsibility (CSR), zumal CSR im Text gelegentlich aufscheint, nicht aber begrifflich entfaltet wird? Als Referenzpunkt der Expertise bleibt Gesellschaft eine erfreuliche Kategorie, die aufgerufen wird, um unternehmerischen Handlungsbedarf einzufordern, die aber nicht als Kontext unternehmerischen Handelns dargestellt oder zumindest skizziert wird. Im Ergebnis kommt die Expertise zu dem Schluss, dass DAX 40-Unternehmen über reichhaltige und vielfältige Ressourcen verfügen, um in einem positiv-konstruktiven Sinn gesellschaftlichen Wandel mitzugestalten. Dabei verwenden die Autor*innen eine eindimensionale stufenförmige Entwicklungssystematik, die von »spontan« und »reaktiv« über »engagiert« bis hin zu »strategisch« und »integriert« reicht und in der sie die DAX 40-Unternehmen einordnen. Dieser Systematik zufolge schöpfen DAX 40-Unternehmen ihr Potenzial nicht aus, da sie in der Mehrzahl ihr gesellschaftliches Engagement weder unternehmensstrategisch ausrichten noch unternehmerisch integrieren. Dem Corporate Citizenship von Dax 40-Unternehmen fehlt es – so WIDER SENSE und goetzpartners – an »Strategien«. Aber was sind Strategien? Es sind schlichte Zweck-Mittel-Konstruktionen: Rationalitätsmythen, die nicht Realität abbilden, sondern in einer sehr schlichten Art und Weise versuchen, Handeln zu modellieren. Handeln – zumal von Unternehmen – ist aber spontan, inkrementalistisch, situativ … einfach wilder, als es WIDER SENSE und goetzpartners hier darstellen; ein kurzer Blick in die Organisationssoziologie (Kühl 2011/2020) verspricht für kleines Geld Inspiration pur und eine vertiefende sozialwissenschaftliche Analyse des erhobenen Materials könnte zur Schatzsuche werden.

Ohne Beratungsunternehmen beraten zu wollen, könnte für die analytische Vertiefung und Kontextualisierung der Expertise die Perspektive der Zivilgesellschaft instruktiv sein. So haben etwa Michael Bürsch (2006) und Susanne Lang (2005) für das BBE sowie Judith Polterauer (2008) für die Aktive Bürgerschaft bereits vor rund zwei Jahrzehnten darauf verwiesen, dass gesellschaftliches Engagement von Unternehmen nicht hinreichend als business case zu verstehen ist, sondern sich erst mit Bezug auf die zivilgesellschaftlichen Perspektive des social case erschließt. Zeitgleich haben Sebastian Braun und der Rezensent schon 2010 den Stand der sozialwissenschaftlichen Forschungen zum gesellschaftlichen Unternehmensengagement rekonstruiert und sozialwissenschaftlichen Forschungsbedarf unter Einsatz bewährter wissenschaftlicher Erhebungs- und Auswertungsmethoden reklamiert.

Und nun? Der exzellente vertrauensbasierte Feldzugang legt es WIDER SENSE und goetzpartners nahe, mit sozialwissenschaftlicher Beteiligung und bewährten Methoden der empirischen Sozialforschung den Datenschatz der vergangenen beiden und der zukünftigen Erkundungen in der Welt der DAX 40-Unternehmen zu erschließen und die Selbstsicht von Unternehmen mit der Außensicht der Zivilgesellschaft zu kontrastieren.

WIDER SENSE/goetzpartners 2021: Vergebene Chancen. Zu wenige DAX40-Konzerne nutzen Corporate Citizenship zur Stärkung ihrer Nachhaltigkeit, Berlin/München; https://widersense.org/wissen/studien/studie-corporate-citizenship-dax40/.


Beitrag im Newsletter Nr. 1 vom 13.1.2022
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Autor

Dr. Holger Backhaus-Maul, Soziologe und Verwaltungswissenschaftler, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; er ist u.a. Vorstandsmitglied der Stiftung Aktive Bürgerschaft (Berlin) und Mitglied im Beirat des Bündnisses für Gemeinnützigkeit; einschlägige Veröffentlichung: Backhaus-Maul, Holger; Nährlich, Stefan; Kunze, Martin (Hrsg.) 2018: Unternehmen in der Gesellschaft. Ein Kompendium zur Erschließung eines sich entwickelnden Themenfeldes, Wiesbaden: Springer VS.

Kontakt: holger.backhaus-maul@paedagogik.uni-halle.de


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