Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 10 vom 12.11.2020

»Gesellschaft selbstwirksam gestalten – STAEpolSEL*«: Ein Projekt für mehr Diversität in der Zivilgesellschaft

Selia Boumessid und Roshanak Roshanbin

Inhalt

Einleitung
Das Projekt »Gesellschaft selbstwirksam gestalten – STAEpolSEL«
Ein Projekt, mehrere Ebenen
Endnoten
Autorinnen
Redaktion

Einleitung

Neuere Studien belegen: Menschen mit internationaler Migrationsgeschichte schätzen ihre politische Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit aus unterschiedlichen Gründen als tendenziell gering ein. [1] Zugleich stellt die interkulturelle Öffnung von zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Protestbewegungen auch heute noch eine Herausforderung für viele Akteur*innen dar. [2] Insgesamt kann daher vor diesem Hintergrund eine geringe Diversität im Bereich Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement konstatiert werden. Zwar sind in diesem Kontext viele positive Entwicklungen zu beobachten, gleichwohl stellt die Beteiligung junger Menschen mit Migrationsgeschichte in der Zivilgesellschaft, die Öffnung zivilgesellschaftlicher Organisationen zu mehr Diversität, aber auch die Vernetzung von Migrant*innenorganisationen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen der Mehrheitsgesellschaft weiterhin eine Herausforderung für alle beteiligten Akteur*innen dar. Ein Großteil dieser Herausforderungen erwächst aus einer mangelnden Anerkennungskultur, Unkenntnis und Vorurteilen auf beiden Seiten. [3]

Das Projekt »Gesellschaft selbstwirksam gestalten – STAEpolSEL«

Ausgehend hiervon führen die Iranische Gemeinde Deutschland (IGD e.V.) und das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement in Kooperation das Projekt »Gesellschaft selbstwirksam gestalten - Stärkung der politischen Selbstwirksamkeit, der gesellschaftlichen Partizipation und des bürgerschaftlichen Engagements zur besseren Integration von iranisch -und afghanischstämmigen Geflüchteten und Migrant*innen (STAEPOLSEL)« durch.

Das Projekt hat zum Ziel durch diverse Maßnahmen, sowohl auf individueller, als auch organisationaler Ebene, Hürden zum bürgerschaftlichen Engagement abzubauen und junge Menschen in ihrer Wahrnehmung, etwas bewirken zu können, zu stärken. Zugleich gilt es, die Vernetzung und den Wissenstransfer zwischen Migrant*innenorganisationen und zivilgesellschaftlichen Organisationen der Mehrheitsgesellschaft auf Augenhöhe zu fördern. Hierzu werden im Rahmen des Projekts durch verschiedene Veranstaltungen (Diskussionsrunden, Expert*innengespräche und Besuche bei politischen Stakeholdern) Debatten über die Bedeutung von bürgerschaftlichem Engagement angeregt, Kooperationen, Zugänge sowie Begegnungsräume zum Themenkomplex Engagement und Ehrenamt geschaffen, die Streit- und Debattenkultur in der Zielgruppe gestärkt sowie Zugänge zu aktuellen Debatten und politischen Gestaltungsprozessen eröffnet.

Ein zentraler Baustein des Projekts ist des Weiteren der Aufbau eines Förderprogramms zur Finanzierung von Mikroprojekten aus der Zielgruppe, um Jungerwachsene mit ehrenamtlichen und zivilgesellschaftlichen Ideen in der Umsetzung ihrer Vorhaben sowohl fachlich als auch materiell zu unterstützen.

Das Projekt ist grundsätzlich herkunfts- und altersübergreifend, auch wenn ein besonderer Fokus auf junge iranisch- und afghanischstämmige Menschen, Vereine und Migrant*innenorganisationen liegt. Die Bedeutsamkeit dieser Zielgruppe für das Projekt begründet sich unter anderem damit, dass diese in der deutschen Öffentlichkeit, verglichen mit anderen Communities, weniger sichtbar sind. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Hervorgehoben werden kann eine gering ausgeprägte Vernetzung innerhalb iranischstämmiger Akteur*innen, die wiederum auf eine politisch heterogene Zusammensetzung der iranischstämmigen Menschen in Deutschland zurückzuführen ist. Ebenso ist der Gedanke des bürgerschaftlichen Engagements bei dieser Zielgruppe und in der Herkunftskultur weniger stark ausgeprägt. Dies trifft auch auf die afghanische Community zu. Damit begründet sich der Handlungsbedarf, diese Zielgruppe für Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement zu gewinnen, interne Vernetzungen zu unterstützen, Teilhabemöglichkeiten zu schaffen und Räume für die Beteiligung zu eröffnen.

Ein Projekt, mehrere Ebenen

Das Projekt setzt zur Erreichung seiner Ziele an unterschiedlichen Ebenen an: Auf der individuellen Ebene wird der starke Handlungsbedarf anerkannt, junge Menschen in ihrer politischen Selbstwirksamkeitserfahrung zu fördern. Zugänge zum Engagement sollen ermöglicht und Räume für Begegnung und Austausch eröffnet werden. Werte wie Solidarität, Hilfsbereitschaft und soziale Verantwortung, die in den Herkunftskulturen vieler migrantischer Communities vorhanden sind, sollen in Richtung bürgerschaftlichen Engagement aktiviert werden. Zudem sollen Einzelne zur stärkeren partizipativen Teilhabe motiviert und ihre politische Streit- und Debattenkultur gestärkt werden.

Auf der Mesoebene begründet sich die Bedeutsamkeit des Vorhabens darin, Migrant*innenorganisationen und Vereine durch Einbettung in bestehende Debattenstrukturen des BBEs stärker für bürgerschaftliches Engagement zu sensibilisieren und ihre Sprechfähigkeit zu fördern. Hierdurch können wertvolle Räume für Diskurse zwischen der Zielgruppe des Projekts und den BBE-Themenfeldern zum gegenseitigen Wissenstransfer und Austausch über Fragestellungen einer vielfältigen Engagementlandschaft entstehen und nachhaltig etabliert werden. Indem Barrieren abgebaut und Migrant*innenorganisationen in diverse Fachdiskurse einbezogen werden, soll ein Beitrag dazu geleistet werden, dass die Organisationen vermehrt als zivilgesellschaftliche Akteur*innen im Interesse einer offenen Demokratie auftreten. Auf diese Weise werden gesellschaftspolitische, kulturelle und soziale Themen gemeinsam gestaltet.

Auf der Makroebene äußert sich die Relevanz des Projekts darin, dass es die Potentiale einer interkulturell offenen Engagementlandschaft für die Integration und Inklusion von Menschen mit internationalem Hintergrund in den Fokus der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurse, beispielsweise der Integrationsforschung, rückt. Diese Potentiale des bürgerschaftlichen Engagements und Ehrenamts auf die Agenda zu bringen, um durch Vielfalt letztlich die demokratischen Strukturen der Gesellschaft zu stärken, begründet ebenfalls die Gewichtigkeit dieses Projekts. Dieses Vorhaben dient damit letztlich der Stärkung der Demokratie, der Partizipation und der Anerkennungskultur.

Vor diesem Hintergrund kann zusammenfassend festgehalten werden, dass in diesem Projekt die interkulturelle Öffnung der Zivilgesellschaft, einhergehend mit der Förderung der politischen Selbstwirksamkeit, eine zentrale gesellschaftliche Relevanz für ein vielfältiges Miteinander beigemessen wird. Denn ein demokratisches Miteinander erfordert Engagement und Vielfalt – Vielfalt der Herkünfte, Lebenswelten und Meinungen.


Endnoten

* Stärkung der politischen Selbstwirksamkeit, der gesellschaftlichen Partizipation und des bürgerschaftlichen Engagements zur besseren Integration von iranisch -und afghanischstämmigen Geflüchteten und Migrant*innen

[1] Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2019): Wie Menschen mit und ohne Migrationshintergrund ihr Verständnis von und ihre Einflussmöglichkeiten auf Politik wahrnehmen: https://www.svr-migration.de/presse/presse-forschung/politische_selbstwirksamkeit/

Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR-Forschungsbereich) (2019): Mit der Politik auf Du und Du? Wie Menschen mit und ohne Migrationshintergrund ihre politische Selbstwirksamkeit wahrnehmen.

[2] Vgl. etwa zur geringen Diversität von Friday’s for Future Sommer, Moritz; Rucht, Dieter; Haunss, Sebastian; Zaja, Sabrina (2019): Fridays for Future. Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland, ipb working paper series, 2/2019. Berlin: ipb. https://protestinstitut.eu/wp-content/uploads/2019/08/ipb-working-paper_FFF_final_online.pdf

[3] Huth, Susanne (2007): Bürgerschaftliches Engagement von Migrantinnen und Migranten – Lernorte und Wege zu sozialer Integration. Frankfurt am Main: INBAS-Sozialforschung GmbH.


Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 10 vom 12.11.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorinnen

Selia Boumessid ist Projektmitarbeiterin im Bereich Netzwerkbetreuung und – entwicklung. Sie ist für das Kooperationsprojekt von Seiten des BBE tätig. Sie ist studierte Kulturmanagerin und hat bereits in mehreren Projekten in gemeinnützigen Vereinen und Stiftungen gearbeitet und legte dabei einen Schwerpunkt auf Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe und des Engagements.

Kontakt: selia.boumessid@b-b-e.de

Roshanak Roshanbin ist an der Iranischen Gemeinde in Deutschland e.V. als Projektmitarbeiterin tätig. Sie ist studierte Soziologin und Psychologin. Prosoziales Verhalten, soziale Ungleichheit und Gefühlsdynamiken hinter Radikalisierungsprozessen stellten ihre akademischen Schwerpunkte in mehreren Forschungsprojekten dar. U.a. war sie zuvor an gemeinswesenorientierten Projekten an privaten und öffentlichen Einrichtungen tätig.

Kontakt: roshanak.roshanbin@iranischegemeinde.de

Weitere Informationen: https://www.b-b-e.de/projekte/staepolsel/

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