Beitrag im Newsletter Nr. 10 vom 19.5.2022

Diversität und Teilhabe in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung

Maud Krohn & Anja Schütze

Inhalt

Zugänge zu kulturellem Engagement
1. Anonymisierung von Anmeldedaten
2. Veränderter Sprachgebrauch
3. Grenzen der Anonymisierung
4. Diversitätsbewusstes Vermittlungsverfahren
5. Ausblick
Literatur
Autor*innen
Redaktion

Zugänge zu kulturellem Engagement

Seit 2014 beschäftigt sich der Trägerverbund Freiwilligendienste Kultur und Bildung mit Wegen zu mehr Inklusion und Diversität in seinen Freiwilligendiensten. Dafür müssen sie leichte und breite Zugänge bieten, statt viel vorauszusetzen. Das Interesse sich zu engagieren und die Bereitschaft, das im Bereich Kultur und Bildung zu tun, sollten ausreichende Voraussetzungen sein. Keine Person soll aufgrund von Schul- oder Berufsabschluss, BeHinderung, Geschlechtsidentität, sozialer Herkunft oder rassistischen Zuschreibungen benachteiligt werden.

Bisher sind die Freiwilligen mehrheitlich weiß, cis-gender, werden nicht be_hindert und circa 90 Prozent der Freiwilligen haben Abitur (Schütze 2017). Um das zu ändern, wurden 2014 in einer Roadmap Maßnahmen für die Öffnung der Freiwilligendienste und den Abbau von Barrieren auf allen Ebenen und in allen Bereichen festgehalten. Das Auswahl- und Vermittlungsverfahren ist eines der Handlungsfelder in Veränderung. Ein Verfahren, das bisher dazu führte, dass zumeist privilegierte Personen einen Einsatzplatz erhalten. Im Zentrum stehen deshalb die Fragen, welche Personengruppen bzw. Communitys in den Reihen der aktuellen Freiwilligen fehlen und inwiefern diese im Vermittlungsverfahren benachteiligt werden. Wie können Träger gemeinsam mit Einsatzstellen (neue) Zugänge schaffen und vorhandene Barrieren abbauen, um interessierten Menschen aus diesen Personengruppen einen Einsatzplatz anzubieten?

1. Anonymisierung von Anmeldedaten

In einem ersten Schritt wurden die Anmeldedaten der Interessierten im Vermittlungsverfahren anonymisiert. Die zentrale Vermittlungsplattform für die Jugendfreiwilligendienste Kultur und Bildung wurde so konzipiert, dass Einsatzstellen die persönlichen Anmeldedaten der Interessierten (Alter, Name, Adresse, Schulabschluss) vor der Entscheidung für ein Kennenlerngespräch nicht erfahren. Zudem können Interessierte kein Foto von sich beifügen, sodass Einsatzstellen erst in den Kennenlerngesprächen die Personen sehen können. Mit dieser Anonymisierung soll verhindert werden, dass (un-)bewusste Vorurteile und Zuschreibungen über Leistungen und Fähigkeiten schon im Vorfeld der Kennenlerngespräche die Entscheidung in den Einsatzstellen beeinflussen. Damit folgte die BKJ einer Empfehlung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2014 (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014).

Die Erfahrungen der Träger in den letzten fünf Jahren zeigen, dass ein solches anonymisiertes Vermittlungsverfahren nur dann gut funktioniert, wenn Einsatzstellen tatsächlich offen sind für Personen mit unterschiedlichen Biografien und Fähigkeiten. Spätestens im Kennenlerngespräch zeigt sich die Haltung und Sensibilität der Einsatzstellen, Interessent*innen unabhängig von Alter, körperlicher oder kognitiver Verfasstheit, rassistischer Zuschreibungen oder Schulabschluss gleiche Chancen zu geben oder sogar Personen zu bevorzugen, die von Diskriminierung betroffen sind (vgl. §5 AGG). Wird im Kennenlerngespräch dagegen immer wieder das sogenannte Self-Cloning betrieben, also die Person ausgewählt, die dem bestehenden Personal am ähnlichsten ist, nützt auch das anonymisierte Vermittlungsverfahren wenig. Häufig liegt dann die Einstellung zugrunde, eine Person finden zu wollen, von der die höchste Leistung zu erwarten ist. Aus diesem Grund ist es notwendig, von Anfang an und immer wieder mit Einsatzstellen über Arbeitsmarktneutralität und ihre Motivation, einen Freiwilligenplatz zu schaffen, in Austausch zu gehen. Denn es geht darum, die Erwartungshaltungen der Einsatzstellen gemeinsam zu überprüfen: Welchen Menschen werden Leistungen im Vorhinein zugeschrieben und welchen nicht? Welche Entwicklungsräume gestehen Einsatzstellen den Freiwilligen zu? Und wie verstehen Einsatzstellen generell den Freiwilligendienst – als Chance für (junge) Menschen, sich auszuprobieren und davon zu profitieren, oder vor allem als Möglichkeit, günstige Arbeitskräfte zu erhalten?

2. Veränderter Sprachgebrauch

Um den Engagementcharakter der Freiwilligendienste stärker hervorzuheben, wurde der Sprachgebrauch in Bezug auf das Vermittlungsverfahren verändert. Lange Zeit wurde von Bewerbungsverfahren, Bewerber*innen und Bewerbungsgesprächen gesprochen und damit eine bestimmte Erwartungshaltung bei den Einsatzstellen geweckt. Bewerbungsprozessen im Arbeitskontext ist innewohnend, dass es sich um die Auswahl der qualifiziertesten Person handelt. Doch ein Vermittlungsverfahren im Freiwilligendienst ist kein Bewerbungsverfahren im klassischen Sinne und sollte dementsprechend anders kommuniziert werden. Deshalb können sich »Interessierte« jetzt auf der zentralen Vermittlungsplattform »anmelden«. Mit den Einsatzstellen führen die Interessierten »Kennenlerngespräche« und keine Bewerbungsgespräche. Wohlwissend, dass auch diese Maßnahmen nur Teilaspekte darstellen, sollen sie die Haltung bei Trägern und Einsatzstellen befördern, dass es sich beim Vermittlungsverfahren nicht um das Auswahlprozedere für eine bestmögliche Arbeitskraft handelt: Die Motivation und das Interesse einer Person sollten ausreichende Voraussetzungen für einen Einsatzplatz sein.

3. Grenzen der Anonymisierung

Die Grenzen der bisherigen Anonymisierung zeigen sich im Punkt der sogenannten Motivationsfragen, die Interessierten gestellt werden: Was interessiert Sie an diesem Platz? Was möchten Sie lernen oder ausprobieren? Aktuell leiten alle Träger des Trägerverbundes Freiwilligendienste Kultur und Bildung die Antworten auf diese Fragen an ihre Einsatzstellen weiter. Damit reagieren sie auf die Forderung der Einsatzstellen, die Anmeldungen vorher besser einschätzen und gegebenenfalls auswählen zu können. Um Vorurteile aufgrund der geschriebenen Motivationstexte bei Einsatzstellen und Trägern auf ein Minimum zu reduzieren, wurde in den Begleittexten auf einfache Sprache geachtet, um allen Personen die Beantwortung dieser Fragen zu erleichtern. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass die von den Interessierten verfassten Motivationstexte Zuschreibungen ermöglichen und zum Ausschluss führen können, da die Anonymisierung oft (in-)direkt aufgehoben wird. So nehmen die Antwortenden im Text zum Teil Fakten auf, die Rückschlüsse auf ihre (Schul-)Bildung zulassen wie beispielsweise: »Nach meinem Abitur möchte ich …«, »Schon am Gymnasium habe ich …« Andere Personen tun sich schwer, die »richtigen« Worte zu finden. Vor allem Einsatzstellen, die gezielt Menschen mit Bildungs- und Berufserfahrung suchen, treffen auf dieser Basis oftmals eine entsprechende Vorauswahl, ohne im direkten Gespräch mit der Person die Passung bzw. Entwicklungsmöglichkeiten zu prüfen. Perspektivisch wäre hier zu diskutieren, ob auf die Motivationstexte verzichtet werden kann, vollständig oder nur für die Träger sichtbar, damit diese in der Auswahl regulierend eingreifen können.

4. Diversitätsbewusstes Vermittlungsverfahren

In den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung wird aktuell über weitere Schritte nachgedacht, Kooperationspartner*innen werden gesucht und neue Wege geplant. Im Folgenden soll kurz skizziert werden, welche Ideen und Überlegungen aktuell im Zentrum stehen.

• Selbstverpflichtende Orientierungszahlen (Quoten)

Um Menschen zu erreichen, die bisher in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung unterrepräsentiert sind, und sie im Freiwilligendienst gut einzubinden, bedarf es »positiver Maßnahmen« (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2010), um bisherige Nachteile auszugleichen und erneute Diskriminierung zu verhindern. Um an dieser wichtigen Schaltstelle anzusetzen, wurde zusätzlich zur Roadmap des Trägerverbundes Freiwilligendienste Kultur und Bildung die Einführung von selbstverpflichtenden Zielvereinbarungen beschlossen. Diese beinhalten pro Träger neben konkreten Maßnahmen zur Diversifizierung eine individuelle Orientierungszahl, die benennt, aus welcher bisher unterrepräsentierten Personengruppe wie viele Personen einen Platz erhalten bzw. welchen Anteil sie an der Gesamtzahl der Freiwilligen ausmachen sollen (Quote).

• Gezielte Kommunikationsmaßnahmen

Es wird davon ausgegangen, dass viele Personen, die der Trägerverbund mit seinem Freiwilligendienste-Angebot erreichen möchte, entweder nicht von der Möglichkeit und/oder dem Nutzen wissen, den ein Freiwilligendienst bietet, oder sich nicht angesprochen fühlen. Das legen die ungleich verteilten Anteile an Personen mit und ohne Abitur nahe, die sich jedes Jahr bei den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung anmelden. Deshalb ist es wichtig, über Orte nachzudenken, wo Personen angesprochen werden können, die bisher in den Freiwilligendiensten unterrepräsentiert sind. Ein möglicher guter Ort könnte die Schule sein. Davon ausgehend, dass ein Grund die mangelnde Information an den Schulen sein kann, wurde 2020 die Kampagne »findsraus« von der BKJ ins Leben gerufen. Mit Postkarten, die gezielt an Schulen verteilt werden, die kein Abitur anbieten, sollen Interessierte auf die Möglichkeit des Freiwilligendienstes und die Vermittlungsplattform der Freiwilligendienste Kultur und Bildung aufmerksam gemacht werden.

• Affirmative Action

Unter Affirmative Action versteht man Maßnahmen, die Diskriminierung durch gezielte Vorteilsgewährung und Unterstützung entgegenwirken sollen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) spricht hier von Bevorzugung aufgrund von Benachteiligungsausgleich. Dazu gehören auch präventive Maßnahmen, die benachteiligende Strukturen im Vorfeld beseitigen (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2010).

Der Trägerverbund Freiwilligendienste Kultur und Bildung nutzt das Prinzip der Affirmative Action in unterschiedlicher Weise. Zum einen bemühen sich die Träger, wie schon beschrieben, junge Menschen ohne Abitur zumindest anteilsmäßig häufiger für Kennenlerngespräche in den Einsatzstellen vorzuschlagen. Zum anderen wurde seit 2020 eine freiwillige Abfrage im Vermittlungsverfahren eingeführt, die Personen mit Diskriminierungserfahrung ermutigt, individuelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Diese Maßnahme soll helfen, Personen gezielt und am zentralen Vermittlungsverfahren vorbei an Einsatzstellen zu vermitteln, die sich dafür offen zeigen.

5. Ausblick

Auch dem kulturellen Engagement jenseits der Freiwilligendienste gelingt es bisher weniger gut, gesellschaftlich marginalisierte Gruppen anzusprechen (vgl. BKJ 2019). Die inklusive Öffnung der Freiwilligendienste kann hier nachhaltige Auswirkungen haben. Denn die Freiwilligendienste Kultur und Bildung ermöglichen Personen mit Diskriminierungserfahrungen eine positive Engagementerfahrung. Das erhöht zumindest die Chance, dass sich diese Personen später auch im Kultur- und Bildungsengagement wiederfinden. Ein solches positives Ergebnis ergab die letzte Ehemaligenbefragung der BKJ (2020): Ehemalige Freiwillige ohne Abitur engagieren sich genauso häufig wie Ehemalige mit Abitur in den Bereichen Kultur und Bildung weiter. Auch ehemalige Freiwillige, die sich diskriminiert fühlen (aufgrund einer Beeinträchtigung/Behinderung, Rassismus oder Sexismus), verweisen in gleichem Maße wie Ehemalige ohne Benachteiligungserfahrungen auf ein weiterführendes Engagement in den Bereichen Kultur und Bildung.

Die Freiwilligendienste der BKJ können demnach ein Anstoß für weiteres kulturelles Engagement sein, für junge Menschen, die sich noch nie engagiert haben und für Personen aus marginalisierten Gruppen. Langjährige und neue Einsatzstellen in Kultur und Bildung sind herzlich willkommen, an diesem herausfordernden und sinnstiftenden Prozess mitzuwirken und dafür zu sorgen, dass interessierte Personen mit Benachteiligungserfahrungen einen Einsatzplatz in ihren Einrichtungen erhalten.

Eine ausführlichere Beschreibung des anonymisierten Vermittlungsverfahrens und der Erfahrungen und Strategien aus dem Trägerverbund findet sich auf der Webseite der BKJ: Diversität und Teilhabe in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung - Zugänge und Vermittlungsverfahren.


Literatur

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2014): Leitfaden für Arbeitgeber. Anonymisiertes Bewerbungsverfahren. www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/AnonymBewerbung/leitfaden_anonymisierte_bewerbungsverfahren.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (9.5.2022).

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2010): Positive Maßnahmen zur Verhinderung oder zum Ausgleich bestehender Nachteile im Sinne des § 5 AGG. www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/expertise_positive_massnahmen.html (7.5.2022).

BKJ – Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (2019): Kulturvereine. Selbstverständnis, Strukturen, freiwilliges Engagement. In Kooperation mit ZiviZ (Zivilgesellschaft in Zahlen) gGmbH im Stifterverband. Berlin. www.bkj.de/publikation/kulturvereine (7.5.2022).

Schütze, Anja (2017): Durch dicke Bretter bohren. In: Schütze, Anja/ Maedler, Jens (Hrsg.): Weiße Flecken. Diskurse und Gedanken über Diskriminierung, Diversität und Inklusion in der Kulturellen Bildung. München, S. 39−47.


Beitrag im Newsletter Nr. 8 vom 21.4.2022
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor*innen

Maud Krohn ist Referentin für Freiwilliges Engagement und Ehrenamt bei der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ).

Kontakt: krohn@bkj.de

Anja Schütze ist Referentin für die Freiwilligendienste Kultur und Bildung bei der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ).

Kontakt: schuetze@bkj.de


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