Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 5 vom 28.5.2020

Wie sich die Corona-Krise auf die europäischen Jugendprogramme auswirkt und wie damit umgegangen werden kann

Manfred von Hebel

Inhalt

Wie reagieren die Betroffenen?
Virtuelle Aktivitäten
Im Lockdown - ein Run auf die Mobilitätprogramme im Jugendbereich?
Erasmus+ und Europäisches Solidaritätskorps: Gegenwart und eine mögliche Zukunft ab 2021
Endnoten
Autor
Redaktion

Mobilitätsprogramme und eine globale Pandemie sind unvereinbare Gegensätze. Programme für grenzüberschreitende Mobilität ohne die Möglichkeit realer Begegnung stellen alle Beteiligten, allen voran die betroffenen jungen Menschen, vor erhebliche Herausforderungen. In der Corona-Pandemie erlebt die europäische Jugendarbeit eine Situation, auf die sich keiner hat vorbereiten können. Die Auswirkungen auf die EU-Programme Erasmus+ JUGEND IN AKTION und Europäisches Solidaritätskorps sind weitreichend und in ihren mittel- und langfristigen Folgen derzeit nicht absehbar. Träger, Organisationen und Teilnehmende an den Programmen, auch die Nationalen Agenturen selber, standen und stehen vor vielen offenen Fragen. Was passiert z.B. mit Projekten, die bereits laufen oder bald hätten starten sollen? Kann das Projekt verschoben werden? Sind virtuelle Treffen möglich? Wie können Kosten abgerechnet werden, wenn das Projekt ausfallen muss?

Nachdem sich JUGEND für Europa sehr schnell selber organisieren konnte und die technischen Voraussetzungen für eine weitest gehende Verlagerung der Arbeit der Kolleginnen und Kollegen ins Homeoffice sichergestellt war, ging es darum, zunächst Lösungen für die unmittelbar betroffenen Teilnehmer/-innen, Projekte, Träger und Einrichtungen zu schaffen. Ziel war und ist es, Gesundheit und Sicherheit der Teilnehmenden zu gewährleisten und Träger und Einrichtungen vor existenzgefährdenden finanziellen Verlusten zu schützen. In enger Abstimmung und ständigem Austausch mit der EU-Kommission und dem Netzwerk der anderen Nationalen Agenturen, wurde im Rahmen der Anwendung von Regelungen unter Force Majeure (höhere Gewalt) ein Paket von Maßnahmen zusammengestellt, das allen Betroffenen eine größtmögliche gesundheitliche Sicherheit und gleichzeitige Flexibilität für die Umsetzung der Projekte bietet.

Wesentlich für den akuten Umgang mit den virusbedingten Einschränkungen war, dass es keine zentrale Entscheidung gab, die Programme vollständig auszusetzen, sondern, dass vielmehr flexible Lösungen gefunden wurden, innerhalb derer die Organisationen, Freiwilligen und Teilnehmer/-innen die für sie am besten geeignete Variante auswählen konnten. Merkmale dieser Maßnahmen sind u.a. die Möglichkeiten der Verlängerung von Projektlaufzeiten, der Unterbrechung von Maßnahmen und die der virtuellen Umsetzung von Teilen der Aktivtäten. Für die Freiwilligen im Europäischen Solidaritätskorps besteht die Möglichkeit, die Tätigkeit zwischenzeitlich im Homeoffice entweder im Einsatz- oder im Heimatland fortzusetzen oder auf ein alternatives freiwilliges Engagement auszuweichen.

Alle Angebote und Möglichkeiten der Unterstützung sowie die Antworten auf die wichtigsten Fragen finden Sie auf den Webseiten von JUGEND Europa [1]ausführlich beschrieben.

Wie reagieren die Betroffenen?

Wie viele andere Institutionen, befasst sich auch die Europäische Kommission derzeit mit einer Analyse der Auswirkungen der aktuellen Situation. Den ersten vorläufigen Ergebnissen einer Umfrage unter Teilnehmenden der Programme zufolge gaben z.B. ein Drittel der Befragten an, dass ihre Mobilitätsaktivitäten unter anderen Voraussetzungen fortgesetzt wurden. Ein weiteres Drittel gab an, dass Maßnahmen abgesagt wurden und etwa ein Fünftel der Befragten berichten, dass die Maßnahmen unterbrochen wurden und zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden sollen. Etwa zwei Drittel der befragten Teilnehmer/-innen gab an, dass sie nach Hause zurückgekehrt seien, das verbleibende Drittel scheint im Einsatzland verblieben zu sein.

Auch RAY – das Forschungsnetzwerk der europäischen Jugendprogramme (Research-based Analysis of European Youth Programmes) wird sich mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Jugendarbeit in Europa beschäftigen. In einer gerade veröffentlichten Umfrage, die sich an alle in der Jugendarbeit engagierten Menschen richtet, geht es u.a. um die Fragen, wie Politik, Gesellschaft und Jugendarbeit besser durch die Auswirkungen der Krise navigieren und langfristige Folgen abfedern können. [2]

Virtuelle Aktivitäten

40% der Befragten, die ihr Projekt unter anderen Voraussetzungen fortgesetzt haben, gaben an, auf virtuelle Aktivitäten ausgewichen zu sein. Dazu scheint es allgemein ein positives Feedback zu geben, wenn auch sowohl dieser Umfrage, als auch unseren eigenen Beobachtungen folgend deutlich wird, dass virtuelle Austausche, Blendend Mobility und digitale Tools eine reale Begegnung nicht ersetzen können.

Mit der Frage der Chancen und Möglichkeiten, aber auch der Grenzen des Einsatzes virtueller Aktivtäten, wird sich die internationale und europäische Jugendarbeit angesichts der Fülle der aktuellen Erfahrungen intensiv beschäftigen müssen.

Einen Anfang macht die von JUGEND für Europa und IJAB e.V. gemeinsam mit einer Reihe von europäischen Partnern organisierte Konferenz »MOVE IT - Youth mobility in the digital era« (#MOVEIT2020 #digitalyouthmobility). Die ursprünglich als traditionell transnationale Veranstaltung geplante Konferenz zur Digitalisierung in der internationalen und europäischen Jugendarbeit findet jetzt ausschließlich online und in zahlreichen Modulen zwischen dem 26. Mai – 17. Juni 2020 statt. [3]

Im Lockdown - ein Run auf die Mobilitätprogramme im Jugendbereich?

Mitten in den europäischen Corona-Lockdown fiel die zweite Antragsfrist für die Programme Erasmus+ JUGEND IN AKTION und Europäisches Solidaritätskorps. Ein Datum, das von nicht wenigen Kolleg/-innen der Nationalen Agenturen mit Spannung, vor allem aber mit Sorge und Skepsis erwartet wurde.

Umso erstaunlicher, dass Erasmus+ JUGEND IN AKTION im Mai 2020 in Deutschland und europaweit eine der stärksten Antragrunden der gesamten Programmlaufzeit erlebt und auch das Europäische Solidaritätskorps eine erhebliche Steigerung der Antragszahlen zu verzeichnen hat. In Erasmus+ JUGEND IN AKTION sind es vor allem die Strategischen Partnerschaften der Leitaktion 2, die mit einer Steigerung von 150% gegenüber dem Vorjahr in Deutschland zu einer Gesamtsteigerung von 70% der Anträge beitragen. Im Europäischen Solidaritätskorps sind es vor allem die Solidaritätsprojekte, die aufgrund ihrer lokalen und von der Eigeninitiative junger Menschen getragenen Ausrichtung besonders geeignet scheinen, um sie auch im Rahmen erheblich eingeschränkter Mobilität umsetzen zu können. Insgesamt hat JUGEND für Europa im Bereich des Europäischen Solidaritätskorps eine Steigerung der Antragszahlen um 50% gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen.

Erklärbar wird diese Entwicklung durch verschiedene Faktoren. Zum einen hat der Lockdown bei Trägern und Einrichtungen offenbar zeitliche Freiräume geschaffen, sich intensiver mit der Antragstellung in den Programmen zu beschäftigen. Das scheint vor allem für die komplexen Anträge für Strategische Partnerschaften in der Leitaktion 2 zu gelten, deren Umsetzung noch dazu nicht zwingend und in allen Phasen eine physische Mobilität erfordert. Zum anderen werten wir es als positives und starkes Signal der Kinder- und Jugendhilfe, vorausschauend und zuversichtlich für die Zeit nach der Krise zu planen und an den Chancen und Möglichkeiten grenzüberschreitender Mobilität, auch zu Überwindung von Krisen, festzuhalten. Und so sehen wir nach einer ersten Sichtung der Projekte bereits jetzt zahlreiche Ideen und Vorschläge, sich im Rahmen europäischer Mobilitätsprogramme mit der Krise und ihren Folgen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus bedeuten die erhofften Fördermittel natürlich auch eine Möglichkeit für Träger und Einrichtungen, existentielle, finanzielle Engpässe abzufedern.

Umso wichtiger wird es deshalb sein, dass die Ausnahmeregelungen und die Flexibilität, die für die laufenden Projekte seit Beginn der Pandemie gelten, je nach Entwicklung der Krise und bei Bedarf auch für weitere 2020 stattfindende Aktivitäten Geltung haben müssen. Die Diskussion über den Umgang mit kommenden Projekten zwischen der Europäischen Kommission, den Mitgliedstaaten und dem Netzwerk der Nationalen Agenturen dazu läuft derzeit, so dass im Augenblick keine verbindlichen Aussagen über künftige Ausnahmeregelungen getroffen werden können.

Erasmus+ und Europäisches Solidaritätskorps: Gegenwart und eine mögliche Zukunft ab 2021

Was von den Visionen eines geeinten, friedlichen und sozialen Europas angesichts einer Krise von epischem Ausmaß übrigbleibt, welchen Schaden die europäische Idee davonträgt: Diese Fragen bestimmen in den letzten Wochen auch die Diskussion um die Zukunft von Erasmus+ und dem Europäischen Solidaritätskorps, sei es nun budgetär oder im Rahmen einer Neuorientierung der Zielsetzungen.

Die EU-Kommission hatte bereits vor fast zwei Jahren ihre Gestaltungsvorschläge für beide Nachfolgeprogramme vorgelegt. Mit der nächsten Programmgeneration will die EU jungen Menschen ein entscheidendes Mehr an Teilhabe, Lernmobilität und engagiertem solidarischen Handeln ermöglichen, und zwar durch ein wesentlich gestärktes, inklusives und erweitertes Programmgerüst. So war beabsichtigt, Wirkung und Reichweite entscheidend zu erhöhen. Zwar laufen die Vorbereitungen für einen Start ab 2021 im Hintergrund, eine Einigung der Mitgliedstaaten zur finanziellen Ausstattung ist aber noch nicht erreicht und angesichts der aktuellen Lage offener denn je.

Da eine Einigung über den Mehrjährigen Finanzrahmen der EU zur Zeit noch aussteht und erst danach die Programme mit entsprechenden Budgetverteilungen verabschiedet werden können, kommt es darauf an, welche Handlungsspielräume die EU, aber auch die Mitgliedstaaten, in den nächsten Monaten sehen. Darüber hinaus bleibt es der Deutschen EU-Ratspräsidentschaft überlassen, unter komplizierten Voraussetzungen den Mehrjährigen Finanzrahmen, aber auch Erasmus+ und das Europäische Solidaritätskorps zu verabschieden und die Programme für 2021 auf den Weg zu bringen. Dabei geht es vor allem darum, in schwierigen finanziellen Zeiten eine angemessene budgetäre Erhöhung der Programme zu gewährleisten. Trotz aller offenen Fragen gibt es bei den Beteiligten Konsens darüber, dass eine Kontinuität in der Nutzung der Programme gewährleistet werden muss, auch für den Fall, dass die neue Programmgeneration als solche nicht pünktlich starten kann.


Endnoten

[1] https://www.jugendfuereuropa.de/news/10906-coronavirus-sars-cov-2-auswirkungen-auf-erasmus-jugend-in-aktion-und-auf-das-europaeische-solidaritaetskorps/
[2] https://surveys.researchyouth.net/894249?lang=en
[3] https://www.jugendfuereuropa.de/veranstaltungen/MOVE-IT/


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Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor

Manfred von Hebel ist Erziehungswissenschaftler und seit 2009 stellvertretender Leiter von JUGEND für Europa – Deutsche Agentur für die EU-Programme Erasmus+ JUGEND IN AKTION und Europäisches Solidaritätskorps.

Kontakt: vonhebel@jfemail.de

Weitere Informationen: www.jugendfuereuropa.de


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