Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 5 vom 27.5.2021

Bürgerschaftliches Engagement und Familie

Interview mit Dr. Gisela Notz

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Bürgerschaftliches Engagement und Familie: Interview mit Dr. Gisela Notz
Endnoten
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Redaktion

BBE: Warum ist das Thema »Familie« für die Landschaft des Bürgerschaftlichen Engagements interessant?

Dr. Gisela Notz: Das Thema »Familie« ist schon lange für BE interessant. Schließlich brauchen Familien Unterstützungsbedarf. Ich denke dabei an das zunehmende Problem der Armut von Kindern und ihrer Bezugspersonen. Jedes 5. Kind wächst in Deutschland in Armut auf, das heißt die Eltern haben kein existenzsicherndes Einkommen, keine bezahlbare Wohnung, keinen Platz in einer Kindertagesstätte, kein Geld eine gute (Aus)bildung zu finanzieren. Wenn es sich um »alleinerziehende« Familien handelt, potenziert sich der Unterstützungsbedarf. »Familien« brauchen auch sog. Ehrenamtliche, wenn zu ihnen alte oder pflegebedürftige Menschen gehören und sie das nicht alleine stemmen können oder wenn ein Familienmitglied (meist ein männliches) Konflikte durch Gewalt und sexuelle Übergriffe lösen will. Familiensozialarbeit ist auch ein wichtiges Arbeitsgebiet der professionellen Sozialarbeit. Und da diese bekanntlich nicht ausreichend zur Verfügung steht, stopfen Engagierte viele Löcher im sozialen Netz.

Bürgerschaftliches Engagement wird aber auch von Familien geleistet. Schon seit 2004 bestehen lokale Bündnisse für Familien, die das BMJFS ins Leben gerufen hat. Mit den Bündnissen sollen Ermöglichungsstrukturen geschaffen werden, um das lebendige Miteinander generationsübergreifend auszubauen. Durch Projekte wie »Familien für Familien« sollen sich FamilienpatInnen finden, die Kinderbetreuung und andere familiäre Hilfen zur Unterstützung außerhalb der eigenen Familie leisten und so Unterstützungsnetzwerke bilden in die »lebenserfahrene Menschen« Wissen, Geduld, Zuneigung in andere Familienleben einbringen. Angesichts der pandemiebedingten Herausforderungen eine gute Idee, um einzelne Familien aus ihrer Isolation und Überforderung zu retten. Allerdings bedeutet das auch zusätzliche Arbeit, meist für sowieso schon durch die vielgeklagte Unvereinbarkeit Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Viele neue Programme setzen auf »Freiwillige Helferinnen«, da das »Prinzip der früheren Großfamilie« in der modernen Gesellschaft nicht mehr funktioniert, wie es auf dem Berliner Familienportal im Blick auf die Mehrgenerationenhäusern zu lesen ist, soll das selbstverständliche Geben und Nehmen zwischen Menschen verschiedenen Alters reaktiviert werden. »Freiwillige HelferInnen« spielen dabei eine wesentliche Rolle. Allerdings wird hier auch ein Familienmodell glorifiziert, die auch in der vorindustriellen Gesellschaft vornehmlich im großbäuerlichen und großbürgerlichen Bereich existierte und die ebenso wenig wie die folgenden Familientypen immer eine »heile Familie« gewesen ist.

BBE: Familienpolitik und Engagementpolitik sind zwei verschiedene Politikfelder, was haben sie miteinander zu tun?

Dr. Gisela Notz: Familienpolitik hat immer auch mit Gesellschaftspolitik zu tun. Sie ist eng verknüpft mit Bevölkerungspolitik, Militärpolitik sowie mit Frauen-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Das für Familienpolitik in der BRD zuständige Familienministerium wurde 1953 als »Bundesministerium für Familienfragen« von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) erfunden. In der DDR gab es bis 1989 kein eigenes Familienministerium. Es wurde unter der Regierung des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière (Ost-CDU) als »Ministerium für Familie und Frauen« nach dem Vorbild des bundesdeutschen Ministeriums neu gegründet. Nach dem Beitritt der DDR zur BRD wurde es wieder aufgelöst. Seit 1957 ist der Name des BRD- Ministeriums mehrmals geändert worden. Seit 1994 heißt es Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Zu den Aufgabenbereichen des BMFSFJ gehören Familie, Senioren, Frauen, Kinder und Jugendliche, Wohlfahrtspflege, Freiwilligendienste und bürgerschaftliches Engagement. Familienpolitik und Engagementpolitik werden also im gleichen Ministerium behandelt. Familienselbsthilfe als Teil des bürgerschaftlichen Engagements wird in der Abteilung »Familienpolitik« behandelt. Das Familienministerium betreut auch den Bundesfreiwilligendienst mit allen seinen Aufgaben und Dienststellen. Es regelt die Zusammenarbeit mit den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, die die Bundesfreiwilligendienststellen bereitstellen. Der Bundesfreiwilligendienst wurde vor 10 Jahren nach der Abschaffung des Zivildienstes eingeführt. Nun könnte man sagen, dass es sich beim BFD nicht um bürgerschaftliches Engagement handelt, sondern um ein besonders prekäres Erwerbsarbeitsverhältnis. Aber er wird in allen Engagementbereichen des BE eingesetzt, ist als »freiwilliges Engagement ein unentgeltlicher Dienst« und leben kann man von dem Taschengeld (426 Euro Höchstgrenze, Stand 2021), das man monatlich dafür bekommt, nicht. Außerdem ist das Bundesministerium auch für Wohlfahrtspflege und bürgerschaftliches Engagement zuständig und begleitete im Jahre 2002 die Enquete-Kommission Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements des Deutschen Bundestages. Von zwei verschiedenen Politikfeldern kann also kaum die Rede sein.

BBE: Das Konzept als Familie einen Freiwilligendienst zu leisten wird immer populärer. Was halten Sie von Programmen wie Familiy Volunteering oder »Freiwilligenarbeit als Familie«?

Dr. Gisela Notz: Ja, angeblich wird das Konzept als Familie einen Freiwilligendienst zu leisten immer populärer. Wie ich verstanden habe, geht es beim Family Volunteering darum, durch Familien-Engagement weitere Potentiale für Ehrenamt und BE zu gewinnen. Seit ich mich mit dem Thema Ehrenamt/Selbsthilfe/Bürgerschaftliches Engagement befasse und das ist seit Beginn der 1980er Jahre, klagen PolitikerInnen aller Couleur darüber, dass aufgrund des demografischen Wandels und der Zunahme von pflege- und sorgebedürftigen Personen, das »freiwillige« Engagement der Bevölkerung nicht ausreichen wird. Gefunden werden immer neue Arbeitsfelder, für die neue Potenziale gewonnen werden müssen. Zunächst war es die »nachwachsende Seniorengeneration« und, da es um Pflege und Sorge (Care) ging, waren wohl die Seniorinnen gemeint, dann wandte man sich an »Menschen mit einem Migrationshintergrund« als »noch nicht voll erschlossene« Potentiale. Eine relativ neue Gruppe stellen auch die Erwerbslosen und Armen dar, die früher lediglich Adressat für Hilfeleistungen waren. Sie haben bereits nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten an Bedeutung gewonnen. Spätestens im Jahr 2015 gab es Ehrenamtsprogramme für Geflüchtete und in der Willkommenskultur Engagierte. Auch sie sollen in der Alten- und Krankenpflege, im Krankenhaus und in Pflegeheimen und bei der Kinderbetreuung Nützliches tun. Wenn sie sich20,5 Stunden in der Woche engagieren, erhalten sie dafür ein Taschengeld von bis zu 200 Euro und können an Sprach- und Fortbildungstrainings teilnehmen. Versprochen wird ihnen eine sinnvolle Tätigkeit und ein geregelter Arbeitsalltag. Gefördert werden sie vom BMFSFJ. Alle diese Gruppen haben, ebenso wie Familien, bereits ehrenamtlich gearbeitet, bevor sie gesondert angesprochen und mit neuen Programmen motiviert werden sollten.

Nun sind es die Familien, die als »Keimzelle« der Gesellschaft angesprochen werden, die für sich und andere Gutes tun sollen. Dies aus doppeltem Grunde: 2019 wurden knapp 36 % aller Ehen geschieden. Die Gewalt in der Familie nimmt zu. Das »Vereinbarkeitsproblem« ist nicht zu lösen, bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper und die hei(li)ge Kleinfamilie ist in der Krise, also braucht sie Hilfe. Gemeinsames Tun – so sagen PsychologInnen hält die Familie zusammen, schafft Erlebnisse, die die familiären Bindungen vertieft. Gemeinsam für andere Gutes tun, schafft Gemeinschaft für die Familie – oder auch nicht? Es kommt darauf an, ob die »Maßnahme« dazu dient, dass sich die Familien nach außen öffnen oder eher von innen abschotten.

Unter Family Volunteering wird das Engagement im Familienverbund verstanden. Das heißt, mindestens zwei Personen aus einer Familie engagieren sich gleichzeitig einmalig oder auch wiederholt in einem Projekt. Die Projekte sind offensichtlich die gleichen, wie im klassischen »Freiwilligendienste« auch. Genannt werden: Gemeinsame Besuche im Seniorenheim, das Aufsammeln von Müll im Park oder auch die Unterstützung von obdachlosen Menschen. Entscheidend sei, dass das Engagement nicht nur auf eine, sondern auf mehrere Personen abzustimmen. Das ist eine alte Weisheit. Aus einem Forschungsprojekt, das ich gemeinsam mit ehrenamtlich Arbeitenden durchgeführt habe und 1986 abgeschlossen habe, geht bereits hervor, dass die Organisation des Engagements auch im Care-Bereich in Gruppen erfolgen sollte. BE und Ehrenamt sollten kollektiv geplante und betriebene Hilfe zur Selbsthilfe sein und notwendige Einzelfallhilfe gemeinsam reflektiert werden können. Das kann – muss aber nicht – ein Familienverbund sein. Bei Menschen jeder Altersgruppe sind es Bedürfnisse nach Kommunikation und Kooperation, gerade auch außerhalb der Familie, die zum gemeinsamen Engagement bewegen. Man denke an die vielen Hausfrauen, die früher ehrenamtlich arbeiteten, um Sinnvolles außerhalb der Familie zu leisten.

Das Family Volunteering soll mit dem Aspekt der Erwachsenenbildung verknüpft werden. Sichergestellt werden soll, »dass die erwachsenen Teilnehmenden im Rahmen des Projektes einen Lerneffekt erzielen. Dabei sollen beispielsweise digitales, technisches, handwerkliches oder organisatorisches Knowhow oder aber ganz grundlegende Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben verbessert werden«. Auch Soft Skills wie Kommunikations- und Teamfähigkeit, Verlässlichkeit etc. sollen Kompetenzen sein, die im Bildungsprozess vermittelt werden. Hier wird deutlich, dass das Projekt bemüht ist, als Zielgruppe nicht, wie beim BE meist üblich, lediglich Mittelschichtsfamilien zu erreichen, sondern es sollen »besonders sozial benachteiligte Familien angesprochen werden«. Ihnen wird empfohlen, »gemeinsam die Freizeit zu gestalten ohne finanzielle Belastungen zu haben«. Das ist sicher gut für die Kinder, die darunter leiden, dass sie nicht wie ihre KlassenkameradInnen in den Urlaub fahren können. Aber ist es wirklich ein sinnvoller Familienurlaub im Seniorenheim oder beim Aufsammeln von Müll im Park zu helfen? Wird dadurch der Zusammenhalt in der Familie gefördert? Werden dafür die extra auszubildenden »Adult Educators« sorgen? Brauch es dazu nicht ausgebildete SozialarbeiterInnen.

Freiwilligenarbeit als Familie kann man auch im Ausland leisten. Portale wie »Volunteering Solutions« bilden solche Engagementreisen als »anderen Familienausflug« in 25 Ländern an. Als Einsatzfelder nennen sie Kinderbetreuung, Unterricht, Gemeindeentwicklung, Freiwilligenarbeit in Elefanten- und Schildkrötenschutzgebieten. Inwieweit sie für »sozial Benachteiligte« finanzierbar sind, müsste noch geprüft werden. Jedenfalls sind die Auslandsprogramme auch mit Kosten verbunden. Solche Agenturen bieten auch Gruppenfreiwilligkeitsprogramme an, die vielleicht für Menschen, die im realen Leben in der Kleinfamilie leben, attraktiver sein können.

Gerade im Zeichen der Corona-Pandemie, während der Kleinfamilien, nimmt man die vorliegenden Berichte ernst, zu viel zusammen und aufeinander angewiesen sind, ist es möglicherweise sinnvoller, auch die Kinder und Jugendlichen für eine Zeit aus der Familie zu beurlauben und Kinderfreizeiten zu organisieren. Leider fehlt in unseren Zeiten eine Kinderfreunde- und Jugendbewegung, wie sie vor dem zweiten Weltkrieg bestanden hat.

BBE: Was ist eine »Familie«, wie wird sie definiert?

Dr. Gisela Notz: Auf den Seiten von Bündnissen für Familien, Mehrgenerationenhäusern und vor allem den Broschüren und Websites des Familienministeriums sind meist heterosexuelle »Normalfamilien« mit Vater, Mutter und ein, meistens zwei Kindern, abgebildet. Das entspricht der familistischen Ordnung der BRD, in der die mit staatlichem und kirchlichem Segen versehene bürgerliche heterosexuelle Kleinfamilie als kleinste Einheit immer noch und immer wieder als »Keimzelle der Gesellschaft« und einzig erstrebenswerte gottgewollte oder natürliche Lebensform gefeiert wird. Trotz ihres ständigen Formenwandels wurde und wird sie als das beständigste Gemeinschaftsgebilde bezeichnet, weil sie angeblich mit der nach Geschlechtern getrennten Arbeitsteilung zwischen »Haupternährer« und Hausfrau (heute Zuverdienerin) scheinbar unausweichliche menschliche Bedürfnisse nach Geborgenheit und Zuwendung befriedigt. Schließlich ist sie auch die billigste Einrichtung zur Versorgung von Kindern, Pflegebedürftigen und alten Menschen. Auch deshalb wird »Familie« nach dem Grundgesetz für die BRD (Art. 6) in der Verknüpfung mit Ehe unter den besonderen Schutz des Staates gestellt. Die Fürsorgearbeit (Care) wird auch heute im Wesentlichen von den Frauen in der Familie geleistet.

In Wirklichkeit ist »Familie« ein situativ vieldeutiger Begriff. Sie ist ein soziales und ein politisches Konstrukt, das sich erst im Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Produktionsweise mit beginnender Industrialisierung herausgebildet hat und das in patriarchalen Gesellschaften zur idealen Zusammenlebensform stilisiert wird. Damit sind andere Formen des Zusammenlebens Abweichungen von der Norm und kommen als Orientierungshilfe nicht in Frage. Die gesellschaftliche Bedeutung und Bewertung der Familie ist jeweils abhängig von den ökonomischen, politischen und militärischen Verhältnissen. DIE Familie gibt es heute ebenso wenig, wie es sie je gegeben hat. Arbeiterfamilien lebten zu allen Epochen anders und verfügten über weniger Ressourcen als bürgerliche Familien. Vorstellungen, Praxen und Wünsche von Familien sind klassenspezifisch geprägt. Kinder aus Arbeiterfamilien oder Flüchtlings- und Migrantenfamilien sind in den gängigen Sozialisationsinstanzen vom Kindergarten bis zur Universität noch immer benachteiligt und haben meist schlechteren Zugang zu höheren Bildungsgängen.

Zu allen Zeiten wurde die »normalbesetzte« Familie durch vielfältige Lebensformen unterwandert. Seit vielen Jahren ist die heterosexuelle Kleinfamilie nicht mehr das vorherrschende Lebensmodell. Eine ständig wachsende Familienform sind alleinerziehende Eltern. Es gibt Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, Wahlfamilien, Wohn-, Haus- und Hofgemeinschaften, Wagenburgen, Kommunen mit und ohne (eigene) Kinder und Bezugsgruppen zwischen Menschen verschiedener Geschlechter, für die wir noch keinen Namen haben. Dennoch orientieren sich Familienpolitik und viele andere Politikbereiche nach wie vor an der bürgerlichen Kleinfamilie.

BBE: In Ihrem Beitrag von 2007 »Familien und bürgerschaftliches Engagement« [1] sprechen Sie über die »neue Unübersichtlichkeit«. Was ist damit gemeint und was hat sich geändert?

Dr. Gisela Notz: In den Beitrag bezog ich mich auf den niedersächsischen Freiwilligensurvey von 2005. Daraus geht hervor, dass »durch Hartz IV […] im Moment eine ›neue Unübersichtlichkeit‹ im Freiwilligensektor« entsteht. »Solidarität [sei] in vielen Einrichtungen zum Fremdwort geworden.« Das heißt, zu dieser Zeit wurden neue Beschäftigungs- und Engagementformen entwickelt. Erwerbslose bekamen 1 €-Jobs, der »mini-Job« wurde eingeführt, Bürgerarbeit bundesweit propagiert. Viele Arbeiten, die früher scheinbar unbezahlbare Arbeiten waren, wurden zu »Arbeitsgelegenheiten«. Tafeln, Suppenküchen und andere existenzunterstützende Maßnahmen wurden eingerichtet, Mehrgenerationenhäuser, generationsübergreifende Freiwilligendienste und später (2011) der durch Gesetz geregelte Bundesfreiwilligendienst eingeführt. Die Unterscheidung zwischen bezahlt und unbezahlt Arbeitenden wurde immer schwerer. Bestehende Erwerbsarbeitsplätze in sozialen Einrichtungen wurden durch »Freiwillige« verdrängt und neue Arbeitsplätze verhindert. Der ohnehin schon heterogene Arbeitsmarkt in den meisten Bereichen, in denen ehrenamtlich und gratis gearbeitet wird, wird auch weiter noch unübersichtlicher. Die berufliche Vielfalt reicht von der gut bezahlten GeschäftsführerIn, über Angestellte in unterschiedlichen Funktionen, Aushilfs- und Honorartätigkeiten, freie Mitarbeit, Selbständige (oft prekär arbeitende), im Nebenberuf Tätige, in Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen Beschäftigte, geringfügig Beschäftigte, solche die Taschengelder und Aufwandsentschädigungen bekommen und solche, die sich ganz ohne Geld engagieren. Die neuen Unterschichtungen zwischen den, oft die gleiche Arbeit leistenden Beschäftigten und Engagierten führen zu Konkurrenz und zu Entsolidarisierung.

BBE: Was würden Sie Familien mit auf den Weg geben, die sich engagieren möchten?

Dr. Gisela Notz: Keine Ratschläge. Sie sollten sich selbst überlegen, ob und wo sie sich engagieren wollen, möglichst mit anderen und nicht isoliert als Familie. Vielleicht ist es sogar gut, wenn einzelne Mitglieder unterschiedliches tun und sich dann in der Familie austauschen. Es gibt zudem noch andere Möglichkeiten des bürgerschaftlichen Engagements, als Löcher im sozialen Netz zu flicken. Freiwilliges Engagement hat in der vielzitierten Zivilgesellschaft auch einen politischen Auftrag, nämlich Ungleichheit und Ausgrenzung anzuprangern und dabei einzufordern, dass Handlungsstrategien entwickelt werden, die der Exklusion entgegenwirken. Familien können sich in der Krankenhausbewegung engagieren und für bessere Arbeitsbedingungen und mehr und besser bezahltes Personal im Gesundheitsbereich eintreten, denn das ist gut für Alle – Patient kann jede/r werden. Es gibt Mieterinitiativen, in denen sich Familien zusammenschließen, um bezahlbaren Wohnraum zu erhalten oder gemeinsam dafür zu kämpfen, dass er entsteht. Es gibt Initiativen von Geflüchteten und MigrantInnen, die in ihren Anliegen unterstützt werden können, bitter notwendige Unterstützung brauchen auch Bündnisse gegen Rechts, gegen christlichen Fundamentalismus, u.a. Sie alle und viele andere wollen nicht nur Wunden heilen, sondern Missstände auf die politische Agenda setzen und darauf dringen, dass sich etwas ändert.


Endnoten

[1] http://library.fes.de/pdf-files/kug/04936.pdf


Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 5 vom 27.5.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Zur Person

Dr. Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, lebt und arbeitet in Berlin. Sie war bis 2007 wissenschaftliche Referentin im Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten. Ehrenamtlich arbeitete sie von 1985 bis 1997 als Redakteurin der Zeitschrift »beiträge zur feministischen theorie und praxis«. Aktuell gehört sie der Redaktion von lunapark21, dem Bündnis für sexuelle Selbst-bestimmung, dem Bündnis Kindergrundsicherung und vd. wissenschaftlichen Beiräten u. a. dem Bund demokratischer WissenschaftlerInnen an. Zahlreiche Veröffentlichungen – auch zu diesem Thema. U.a. »Freiwilligendienste« für alle, Neu-Ulm 2012; Kritik des Familismus, Stuttgart 2015.

Kontakt: www.gisela-notz.de


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