Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 10 vom 11.11.2021

Die Zivilgesellschaft in der Schweiz muss den digitalen Wandel mitgestalten

Torben Stephan

Inhalt

Die Macht der Tech-Konzerne
Die digitale Zivilgesellschaft in der Schweiz
Gesellschaftliche Bedeutung der Digitalisierung
Sprachgrenzen
Internationale Zivilgesellschaft
Endnoten
Autor
Redaktion

Mittlerweile ist es auch in der Politik angekommen: Die Digitalisierung betrifft alle Bereiche unseres Lebens. Wir kaufen online ein. Unsere Urlaubsfotos schicken wir per Messenger an die Familie. Den fahrbaren Untersatz rufen wir per Smartphone. Und alle elf Minuten verliebt sich ein Single auf Paarship.

Einverstanden, der letzte Satz muss kritisch hinterfragt werden. Er steht aber auch symbolisch dafür, wie eng mittlerweile selbst unsere Intimsphäre mit der digitalen Sphäre verbunden ist. In immer mehr Hosentaschen, immer mehr Haushalten und an immer mehr Handgelenken befinden sich sogenannte smarte Geräte, die unser Handeln, unsere Vorlieben und sogar unsere Sehnsüchte detailliert dokumentieren. Der Satz ist aber auch Symbol dafür, wie unkritisch wir noch immer mit der Digitalisierung umgehen. Während wir uns darüber freuen, dass die zahllosen Tools und Gadgets uns das Leben scheinbar erleichtern, freuen sich die grossen Technologie-Unternehmen in Übersee (kurz: GAFAM – Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) und in China über die nie enden wollende Ressource »Daten«, die wir ihnen im Sekundentakt frei Haus liefern und mit denen sie anschliessend Milliarden-Gewinne erzielen.

Das Google-Mutterunternehmen »Alphabet« hat im zweiten Quartal 2021 einen Gewinn von 18,53 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. [1] Wie kann das sein, wenn wir für die Google-Tools wie Suchmaschine, Webbrowser, Smartphone-Software und GoogleDocs nie einen Cent bezahlen? Den kritisch denkenden Menschen unter uns dämmert es: Wir sind nicht der Kunde in diesem System, wir sind das Produkt. Google nutzt unsere persönlichen Daten längst nicht mehr nur für Werbeanzeigen. Vielmehr ist die »Datenkrake« unter anderem in künstliche Intelligenz, selbstfahrende Autos, Biotechnologie, Infrastruktur und vieles mehr investiert. Alles neue Businessmodelle, die auf Daten basieren. Unseren Daten.

Die Macht der Tech-Konzerne

Welche Macht die amerikanischen Tech-Unternehmen bereits haben, hat die europäische Politik 2020 am eigenen Leib erfahren. Da der Smartphone-Markt zwischen Google (Android) und Apple aufgeteilt ist, entschieden die beiden Unternehmen für die gesamte Welt, dass die Covid-Tracing-App auf einer dezentralen Technologie basieren muss. Das war erstmal eine richtige Entscheidung. Problematisch war aber, dass die demokratisch gewählten Regierungen in Deutschland und Frankreich zu der Zeit noch den zentralen Ansatz präferierten. Die beiden Grosskonzerne hebelten also kurzerhand die Demokratie aus – eine schönere Dystopie hätten sich nicht einmal die besten Science-Fiction-Autor:innen Hollywoods ausdenken können.

In Deutschland macht spätestens seit diesem Erlebnis parteiübergreifend der Begriff der «digitalen Souveränität» die Runde. In der Schweiz ist der Gedanke einer digitalen Unabhängigkeit von amerikanischen Grosskonzernen zwar seit längerem bekannt, hat aber bei weitem noch nicht die Popularität erlangt wie beim grossen Nachbarn im Norden. Bisher gibt es – ganz schweizerisch – eher den Versuch einer kooperativen Lösung mit den Tech-Giganten. Schliesslich haben Google, Microsoft, Facebook, Amazon und Apple in Zürich – also nahe der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) – bemerkenswert grosse Niederlassungen eröffnet. Google hat mit 4000 Angestellten in der Limmatstadt gar den grössten Forschungs- und Entwicklungsstandort ausserhalb der USA. [2]

Die digitale Zivilgesellschaft in der Schweiz

Entsprechend schwer – könnte man jetzt meinen – ist es für eine kritische Zivilgesellschaft in der Schweiz, Gehör in der Politik zu finden. Die Schweiz hat aber einen grossen Vorteil, den sich die Zivilgesellschaft zunutze macht: die direkte Demokratie. Sie gehört zum elementaren Selbstverständnis der Eidgenoss:innen.

Im März dieses Jahres gelang einer zivilgesellschaftlichen Bewegung rund um die Vereine »Digitale Gesellschaft Schweiz« und »Public Beta« ein Coup. Sie ergriffen das Referendum gegen das vom Parlament bereits verabschiedete Gesetz über eine elektronische Identität (eID-Gesetz). Grund war, dass die Politik den elektronischen Ausweis von privaten Unternehmen ausstellen lassen wollte. Die Gegner:innen des Gesetzes plädierten dagegen für eine staatliche Lösung. Bei der anschliessenden Volksabstimmung sprach sich die Stimmbevölkerung mit 64% Nein-Stimmen für die staatliche Lösung aus. Es war das erste Mal, dass in der Schweiz überhaupt eine digitalpolitische Entscheidung vor die Stimmbevölkerung kam.

Wie konstruktiv so etwas sein kann, zeigte sich im Anschluss an die Abstimmung. Vertreter:innen aus allen sechs Parlamentsfraktionen brachten im September identische »parlamentarische Motionen« in den Nationalrat ein. Darin fordert die grosse Kammer den Bundesrat (also die Schweizer Regierung) auf, eine staatliche, datensparsame und die Privatsphäre schützende E-ID auszuarbeiten. Die Behörden arbeiten bereits daran. [3]

Die Zivilgesellschaft ist also auch in der Schweiz ein wichtiges Korrektiv. Wie auch in anderen Teilen Europas ist es essentiell, dass sie den digitalen Wandel mit ihrem gemeinwohlorientierten Blickwinkel mitgestaltet. Dabei muss es nicht immer so konfrontativ sein, wie bei der Schweizer E-ID. Bei der SwissCovidApp haben sich Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft von Anfang an gut ergänzt. Das Resultat ist ein weltweiter, dezentraler Standard.

Eine besonders wichtige Rolle spielt die Zivilgesellschaft für kritische Technologien wie Mustererkennung und maschinelles Lernen (gern unter dem Begriff »künstliche Intelligenz« subsumiert). Denn Teile der Wirtschaft gehen häufig unkritisch mit den neuen Möglichkeiten um, wenn sich dadurch enorme Gewinne erzielen lassen. Das zeigen die deutlichen Aussagen der Facebook-Whistleblowerin Frances Haugen: »Was ich immer wieder bei Facebook gesehen habe war: Interessenkonflikte zwischen dem, was für die Öffentlichkeit gut ist und was für Facebook gut ist. Facebook hat sich für das entschieden, was mehr Geld bringt.« [4]

Die Politik wirkt demgegenüber völlig hilflos. Wie ist sonst zu erklären, dass Facebook-Gründer Mark Zuckerberg die Parlamente dieser Welt an der Nase herumführt? Vor dem US-Kongress betonte der Unternehmer noch, dass soziale Medien positive Auswirkungen auf die mentale Gesundheit von Menschen hätten. Dank Haugen kam nun heraus, dass Zuckerberg damals längst bekannt war: Die zum Facebook-Imperium gehörende Foto-Plattform Instagram kann bei Teenagern mentale Schäden verursachen. Unternommen hat er nichts dagegen. [5]

Es wäre deshalb klug von der Politik, sich das reichlich vorhandene Wissen und das Engagement aus der Zivilgesellschaft zunutze zu machen. Denn im Gegensatz zu Lobby-Verbänden oder Grossunternehmen verfolgen Organisationen aus der digitalen Zivilgesellschaft in der Regel eine gemeinnützige Agenda. Sie weisen dabei einerseits auf die Gefahrenpotenziale der modernen Technik hin, nutzen aber auch die Chancen der Digitalisierung für gemeinwohlorientierte Innovationen. So macht der Verein »Opendata.ch« seit Jahren auf das Potenzial von öffentlich zugänglichen (nicht persönlichen!) Daten wie Wetter-, Geologie-, Bahn- und Verkehrsdaten aufmerksam und betont die Innovationskraft, die daraus entstehen kann. Im Rahmen des »Prototypefunds Schweiz«, den der Verein zusammen mit der Stiftung Mercator Schweiz ins Leben gerufen hat, werden solche Innovationen gefördert. Gemeinsam klären die beiden Organisationen aber auch über den Wert persönlicher Daten auf, und zwar mit dem »Data Café«. Dieses bietet an öffentlichen Orten vermeintlich kostenlosen Kaffee an. Der Pferdefuss: Die Kund:innen müssen persönliche Daten wie Namen, E-Mail-Adresse, Kanton und Geburtsdatum verraten. Das Ziel des Projekts ist es, darauf aufmerksam zu machen, dass wir diese Art von Deal täglich im Internet akzeptieren.

Gesellschaftliche Bedeutung der Digitalisierung

Eine Besonderheit in der Schweiz ist die Sprachgrenze zwischen der Deutschschweiz und der französischsprachigen Romandie – häufig scherzhaft »Rösti-Graben« bezeichnet. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Sprachbarriere, auch kulturell unterscheiden sich die beiden Landesteile. Während in der Deutschschweiz beispielsweise 30 Prozent das »unmoralische Angebot« des oben erwähnten »Data Cafés« akzeptieren, sind es in der Westschweiz doppelt so viele.

Der Rösti-Graben ist aber auch eine Linie, die zivilgesellschaftliche Organisationen trennt und die Zusammenarbeit erschwert. Als Stiftung sieht sich Mercator deshalb auch in der Rolle als Vernetzerin der Zivilgesellschaft – natürlich auch über die verschiedensprachigen Landesteile hinweg. Das schliesst auch die italienische Schweiz, das Tessin, mit ein. Dabei handelt es sich nicht immer um eine leichte Aufgabe, da sich ausser der Sprache auch die Organisationen und der Unterstützungsbedarf unterscheiden. Den Rösti-Graben zu überwinden, erfordert erhebliche Ressourcen in Form von Geld, Arbeitskraft, vor allem aber Geduld.

Internationale Zivilgesellschaft

Die Schweiz mag als Nicht-EU-Mitglied mitten in Europa eine gewisse Sonderstellung einnehmen. Vor den gesellschaftlichen Fragen, die sich im Zuge der Digitalisierung stellen, kann sie sich aber nicht verstecken. Diese sind in der Regel international. So wird aktuell auch in der Schweiz über die richtigen Wege zur Regulierung sogenannter KI-Systeme intensiv diskutiert. Es werden Ansätze getestet, wie sich junge Menschen zu digital mündigen Bürger:innen entwickeln können. Und gerade entstandene Datengenossenschaften überlegen, wie sie einen ethisch vertretbaren Kompromiss zwischen Datenschutz und Datennutzung finden können. Wichtig ist dabei vor allem, dass sich eine starke Zivilgesellschaft hörbar in die Debatten einbringt und den digitalen Wandel konstruktiv mitgestaltet.

Die digitale Zivilgesellschaft in der Schweiz könnte entscheidende Vorteile erlangen, wenn sie sich stärker mit internationalen Partner:innen vernetzen würde. Doch diese Möglichkeit wird noch zu wenig genutzt. Der Schweizer Verein Netzcourage, der sich vor allem gegen Hassrede im Netz stark macht, ist eine Ausnahme. Der Austausch mit gleichgesinnten Organisationen in Deutschland und Österreich ist eng. Auch die Digitale Gesellschaft pflegt einen regelmässigen grenzüberschreitenden Dialog, zum Beispiel mit dem Chaos Computer Club in Deutschland oder Amnesty International. Und auch die Stiftung Mercator Schweiz arbeitet eng mit ihrer Schwesterstiftung in Deutschland und anderen deutschen Organisationen zusammen. Trotzdem werden auf die digitalen Herausforderungen unserer Zeit noch viel zu selten gesamteuropäische Lösungen gesucht – weder auf politischer noch auf zivilgesellschaftlicher Ebene. Das muss sich ändern. Denn die Digitalisierung kümmert sich weder um Landes- noch um Kantonsgrenzen. Ihr Wertegerüst ist in der Regel US-amerikanisch geprägt. Wenn wir den digitalen Wandel auf Grundlage europäischer Werte mitgestalten wollen, dann müssen wir diese Werte auch gemeinsam für das digitale Zeitalter definieren. Und dazu braucht es eine starke, vernetzte, gesamteuropäische Zivilgesellschaft.


Endnoten

[1] https://www.googlewatchblog.de/2021/07/google-quartalszahlen2-alphabet-unternehmen/
[2] https://www.persoenlich.com/digital/viertes-gebaude-am-bahnhof-zurich-eroffnet
[3] https://www.netzwoche.ch/news/2021-09-15/nationalrat-winkt-sechs-vorstoesse-zur-neuen-e-id-durch
[4] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/facebook-whistleblowerin-101.html
[5] https://dnip.ch/2021/10/26/facebook-groundhog-day-und-worueber-wir-wirklich-sprechen-sollten/


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Torben Stephan leitet das Programm »Digitalisierung + Gesellschaft« bei der Stiftung Mercator Schweiz. Er möchte die Chancen der Digitalisierung nutzen, um gemeinwohlorientierte Innovationen zu fördern. Seit Jahren engagiert sich Stephan im Bereich der freien Software in der Schweiz, in Europa und in Asien. Stephan hat in Asien die erste Investigativjournalisten-Konferenz und die erste Konferenz für politische Kommunikation mitgegründet sowie zahlreiche Publikationen veröffentlicht.

Kontakt: torben.stephan@stiftung-mercator.ch


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