Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 1 vom 28.1.2021

Eine Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Jörg Wojahn, Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland

Inhalt

Eine ungewohnte Präsidentschaft für alle
Die großen Herausforderungen verschwinden nicht
Ein spätes, aber vernünftiges Abkommen mit Großbritannien
Aufschub anderer Projekte
Die Pandemie war ein Katalysator
Autor
Redaktion

Corona, Brexit, generationenübergreifende Finanzierungsfragen und viel mehr: Der Vorsitz Deutschlands im Rat der EU stand in einem schwierigen und turbulenten Jahr 2020 vor einer ganzen Galerie gewaltiger Herausforderungen mit ebenso großen Erwartungen aus dem Rest Europas und der Welt. Trotz dieser Unwägbarkeiten hat der deutsche Ratsvorsitz diese temporäre Führungsrolle erfolgreich ausgefüllt, Europa an erste Stelle gesetzt und in einem wegweisenden Halbjahr viele Ziele erreicht.

Die seit Anfang 2020 vieles überlagernde Corona-Pandemie und ihre Folgen waren zweifelsohne Gravitationszentrum der deutschen Präsidentschaft. In einer Regierungserklärung im Sommer beschrieb Bundeskanzlerin Angela Merkel zutreffend, die Europäische Union stehe vor der »größten Herausforderung ihrer Geschichte«. Eine der bedeutendsten Leistungen Berlins war es entsprechend, die Union in dieser seit Gründung der EU nie dagewesenen Krise nicht nur zusammenzuhalten, sondern tatsächlich nach vorne zu bringen. Die erste Virus-Welle wurde zur Belastungsprobe für die europäische Solidarität. Zeitgleich war das kopf- und planlose Schließen einiger nationaler Grenzen für Menschen und Güter mit weitreichenden Folgen wie Lieferengpässen für Supermärkte und fehlenden Schutzmaterialien ein Weckruf. Er machte nicht nur offensichtlich, dass sich Europa nur gemeinsam erfolgreich gegen die weltweit verbreitete Infektionskrankheit SARS-CoV-2 positionieren kann. Die Krise führte auch Bürgerinnen und Bürgern, Politikerinnen und Politikern in Deutschland eindringlich vor Augen, dass eine gut funktionierende EU im nationalen Eigeninteresse ist. Die Coronakrise war damit insgesamt auch ein großer Blockade-Löser in vielen Politikbereichen mit dem Ergebnis gemeinsamer europäischer Lösungen auch in Bereichen, in denen das früher gerade in Deutschland undenkbar erschien.

Unter den Mammut-Aufgaben, die es abzuräumen galt, waren neben einem dringend notwendigen Corona-Hilfspaket der Mehrjährige Finanzrahmen, die Verschärfung des EU-Klimaziels und nicht zuletzt der Abschluss eines Abkommens über die künftigen Beziehungen mit Großbritannien und neue Instrumente zur Sicherung der Rechtstaatlichkeit in der EU. Auch wenn die deutsche Ratspräsidentschaft die großen Herausforderungen gemeistert hat, konnten andere wichtige Reformen, wie zum Beispiel die Überarbeitung der Migrations- und Asylpolitik, noch nicht abgeschlossen werden.

Eine ungewohnte Präsidentschaft für alle

Auch wir in der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland haben die intensive Zeit eines deutschen Ratsvorsitzes völlig anders erlebt als etwa 2007, als die Deutschen turnusmäßig das letzte Mal den Vorsitz innehatten. Unsere Unterstützung für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Kommissarinnen und Kommissare sowie unsere Dienststellen in Brüssel sah genauso wie der Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern deutlich anders aus, als wir uns noch vor einem Jahr vorgestellt und gewünscht hatten.

Üblicherweise bedeutet die Präsidentschaft für ein Land neben den inhaltlichen Herausforderungen einen erheblichen Aufwand im Protokoll und der Logistik. Wie so viele mussten auch wir lernen, wie sich auch online spannende Veranstaltungen auf die Beine stellen lassen und wie wichtig es ist, alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Anfang auf »stumm« zu stellen, um jeden und jede dann wirklich zu Wort kommen lassen zu können. Auch wenn uns dieser Transfer gut gelungen ist, bleibt der Wermutstropfen, auf eine der zentralen Wesensmerkmale des Europäischen Hauses als Ort des lebendigen Austausches zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Politik jedenfalls physisch in deutlich reduzierter Form verzichtet haben zu müssen. Wir werden uns umso mehr freuen, wenn wir unsere Türen für Besucherinnen und Besucher wieder häufiger öffnen können.

Die großen Herausforderungen verschwinden nicht

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft war eine des Krisenmanagements. Die europäische Koordinierung wie die Anlage eines gemeinsamen strategischen Vorrats an medizinischer Ausrüstung, die Abstimmung beim Einsatz von Antigen-Schnelltests sowie die gemeinsame Impfstoffbeschaffung zählt zu den gemeinsamen Erfolgen der Bundesregierung und der Kommission. Neben unmittelbaren Antworten auf die kurzfristigen Herausforderungen konnten Weichen für die Zukunft gestellt werden. Dies war wichtig, da unsere größten Herausforderungen in Europa wie der Klimawandel, die Rolle der EU in der Welt und der dauerhafte Schutz unserer Werte nach Ende der Pandemie die gleichen wie zuvor sein werden.

Die Einigung auf ein Finanzpaket mit einem Gesamtvolumen von 1,8 Billionen Euro für den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 und den Aufbaufonds »NextGenerationEU« für die Bekämpfung der Folgen der COVID-19-Krise ist alleine durch seine Höhe ein historischer Meilenstein und die größte Errungenschaft dieser Ratspräsidentschaft. Der Corona-Hilfsfonds, über den 390 Milliarden Euro als direkte Zuschüsse und 360 Milliarden Euro als Kredite gewährt werden, erlaubt uns in der EU zum ersten Mal die Aufnahme gemeinsamer Schulden an den Finanzmärkten, ein bemerkenswerter und weitreichender Integrationsschritt. Dabei verpflichtet sich die EU auf eine Rückzahlung ab spätestens 2058. Um diese Rückzahlung der aufgebrachten Marktfinanzierung zu erleichtern und den Druck auf die nationalen Haushalte weiter zu verringern, werden wir in der Kommission in einem späteren Stadium des Finanzierungszeitraums 2021-2027 zusätzliche neue Eigenmittel vorschlagen, die zu den bereits vorgeschlagenen Mitteln hinzukommen. Diese werden eng mit den Prioritäten der EU (Klimaschutz, Digitalisierung und gerechte Besteuerung) verknüpft sein.

Dies ist wenig Geld im Vergleich zur Alternative des Nichtstuns. Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch würde uns in Europa deutlich teurer zu stehen kommen. Trotzdem dürfen wir mit den Investitionen von hunderten Milliarden Euro nicht einfach das Alte und Überholte wiederaufbauen. Das größte Konjunkturpaket, das jemals aus dem EU-Haushalt finanziert wurde, haben wir daher darauf ausgerichtet, unsere umweltschädlichen Gewohnheiten zu überkommen und unsere Wirtschaft grüner, digitaler und widerstandsfähiger zu gestalten.

Die Vereinbarung des Haushaltspakets war eine Voraussetzung für die Einigung der Mitgliedstaaten auf ein ehrgeizigeres Klimaziel mit der Senkung der Treibhausgas-Emissionen über 55 Prozent im Vergleich zu 1990. Erst mit der Verabschiedung des Haushalts ist geklärt, wie viele Mittel den Mitgliedstaaten für Klimaschutz-Maßnahmen zur Verfügung stehen. Das schärfere Klimaziel wird der europäischen Politik eine Richtung geben und Europa weiterhin zum Vorreiter in Klimafragen machen. Ein wichtiger Schritt hin zur Klimaneutralität im Jahr 2050.

Diese finanziellen Mittel, die wirtschaftlichen Wiederaufbau und Nachhaltigkeit zusammendenken, stärken Europa und eröffnen uns Möglichkeiten, die noch bis vor einem Jahr undenkbar waren. Darüber hinaus wird die Vergabe der Gelder zum ersten Mal an einen Rechtsstaatsmechanismus geknüpft, der die Demokratie und die zivilgesellschaftlichen Kräfte in ganz Europa stärkt. Er ergänzt unseren EU-Werkzeugkasten mit neuen Instrumenten und wird es künftig erlauben, EU-Zahlungen bei Missachtung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit einzustellen. Dabei bildet der jährliche Bericht über die Rechtsstaatlichkeit, der unvoreingenommen alle Mitgliedstaaten in den Blick nimmt und positive wie negative Entwicklungen berücksichtigt, einen wichtigen neuen Baustein.

Ein spätes, aber vernünftiges Abkommen mit Großbritannien

Der Last-Minute-Durchbruch in den Brexit-Verhandlungen am Nachmittag des 24. Dezember zum Ende der elfmonatigen Übergangszeit macht deutlich, wie knapp ein No-Deal-Szenario abgewendet werden konnte. Auch wenn der Abschluss über den 1246 Seiten starken Austrittsvertrag zwischen Brüssel und London im Vergleich zur Alternative ohne Abkommen positiv ist, ist seit dem 1. Januar 2021 prinzipiell alles schlechter als in den vier gemeinsamen Jahrzehnten zuvor. Der nun endgültig vollzogene Brexit bedeutet nicht nur deutlich mehr Bürokratie für Unternehmen und Spediteure, Nachteile für Reisende oder Auswanderer, sondern wird den Alltag von Millionen Bürgerinnen und Bürgern auf beiden Seiten des Ärmelkanals konkret erschweren.

So können junge Menschen eines der Vorzeigeprogramme der europäischen Einigung, das Erasmus-Programm zur Förderung des Austausches von Studierenden, nach einer bedauerlichen Entscheidung Londons nicht mehr in Großbritannien absolvieren. Der Austritt aus Erasmus ist für Tausende junge Europäerinnen und Europäer besonders bitter. Zudem schmälert der Brexit auch die Möglichkeiten nach dem Studium. Die vereinfachte bzw. oftmals automatische Anerkennung von Berufsabschlüssen fällt zukünftig weg. Seit dem 1. Januar 2021 müssen Ärzte, Rechtsanwältinnen, Architekten oder Ingenieurinnen ihre erworbenen Qualifikationen auf Grundlage individueller Vorschriften des jeweiligen Landes anerkennen lassen.

Umso dringlicher sollten wir in den nächsten Jahren die grenzüberschreitenden Bande zwischen den organisierten Zivilgesellschaften, Städten und Regionen, in der Kultur und Wissenschaft pflegen und neue knüpfen.

Aufschub anderer Projekte

Eines der großen und schmerzlichsten Opfer der Corona-Pandemie, auch für uns in der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, ist zweifelsfrei die Konferenz zur Zukunft Europas, deren Beginn nach dem ursprünglich angedachten Termin im Mai 2020 ebenfalls verschoben werden musste. Sollen die Ergebnisse der zwei Jahre langen Konferenz bis zur Europawahl 2024 umgesetzt werden, bleibt nicht mehr viel Zeit für die Mitgliedstaaten, sich im Rat auf eine gemeinsame Position zu einigen.

Die Konferenz sollte also so bald wie möglich beginnen. Europa lebt vom Engagement und der Gemeinschaft seiner Bürgerinnen und Bürger, die kulturelle Vielfalt und eine lebendige zivilgesellschaftliche Debatte über Grenzen hinweg sind die Grundlage für unsere erfolgreiche Zukunft. Dass wir tragfähige Lösungen für ein starkes Europa nur gemeinsam finden, hat uns die Corona-Krise einmal mehr gezeigt. Ein starker öffentlicher europäischer Diskurs ist hierfür essentiell.

Ein weiteres zentrales Politikfeld, in dem dringend Handlungsbedarf besteht und eine langanhaltende politische Pattsituation nicht aufgelöst werden konnte, ist die Migrations- und Asylpolitik der EU. Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte hier im September nach der Vorstellung des Migrations- und Asylpakets der Kommission ehrgeizige Ziele gesetzt. Letzten Endes erreichte die Präsidentschaft zu diesem sensiblen Thema aber nur einen Fortschrittsbericht, ohne dass es bei wesentlichen Fragen bisher eine Einigung gibt. Um die Widersprüche zwischen unseren Mitgliedstaaten zu überwinden, muss die portugiesische Präsidentschaft weiter intensiv arbeiten. Die Reformvorschläge der EU-Kommission liegen auf dem Tisch.

Die Pandemie war ein Katalysator Insgesamt haben die Deutschen die großen Aufgaben geschultert und erhalten zurecht viel Lob für ihre EU-Ratspräsidentschaft. Viele der beschlossenen Maßnahmen, wie die gemeinsame Aufnahme von Schulden oder ein an den Haushalt gebundener Rechtsstaatsmechanismus, waren bis vor einem Jahr völlig undenkbar. Die COVID-19-Krise hat es ermöglicht, diese politischen Blockaden zu lösen.

2020 war ein annus horribilis, 2021 bleibt insbesondere durch die andauernde Corona-Pandemie auch für uns in Europa weiterhin eine gewaltige Herausforderung. Dies wurde zuletzt Anfang Januar deutlich, als sich in Deutschland erneut alte nationale Reflexe bei Diskussionen um die Impfstoffbeschaffung zeigten nach dem Motto »Wie kommt es, dass ein in Deutschland entwickelter Impfstoff nicht zuerst in Deutschland für alle verfügbar ist!« Davon abgesehen, dass die Impfstoffentwicklung ein internationales Projekt war: Nach dieser Logik könnten sich auch Rheinland-Pfälzer beschweren, dass nicht nur sie, sondern auch Brandenburger den Impfstoff bekommen.

Dennoch dürfen und sollten wir auch Dank der ergebnisreichen letzten Monate das neue Jahr mit Hoffnung und Optimismus beginnen. Europa hat gerade bewiesen, dass es insbesondere auch in Zeiten der Not gemeinsam nach vorne denken kann. Die gemeinsame Impfstoffbeschaffung in der EU trägt Früchte und wird sich Monat für Monat mit der Erhöhung der Produktionskapazitäten von Impfdosen beschleunigen. Das schnelle und gemeinsame Handeln der EU und ihrer Mitgliedstaaten gewährleistet uns dabei eine ausreichende und rasche Versorgung mit einem sicheren und wirksamen Impfstoff. Es verhindert auch einen selbstzerstörerischen impfnationalistischen Wettlauf mit weitreichenden Folgen für den grenzüberschreitenden Verkehr, die Preisgestaltung und den Zusammenhalt der EU insgesamt. In denjenigen EU-Staaten, die dabei ins Hintertreffen gerieten, wären – wie schon einmal im Frühjahr – China oder Moskau dann wohl gerne eingesprungen. Wollen wir, dass unsere europäischen Partner nach Brüssel oder Berlin schauen oder nach Moskau oder Peking? Keine Region ist sicher, bis das Virus nicht überall unter Kontrolle gebracht wurde. Darüber hinaus werden nie dagewesene finanzielle Mittel die Erholung der Wirtschaft ankurbeln und die globale Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie durch die Impfallianz COVAX und das Team Europe wird weiter voranschreiten.

Von den bisher insgesamt 13 deutschen EU-Ratspräsidentschaften war diese in so gut wie jeder Hinsicht wahrscheinlich die schwerste. Am 1. Januar 2021 hat Deutschland an Portugal übergeben. Auch wenn wir auf eine politisch weniger krisenreiche Zeit hoffen dürfen, gibt es für die Trio-Ratspräsidentschaft noch viel zu tun.


Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 1 vom 28.1.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Jörg Wojahn ist Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland und Leiter der Vertretung an den Standorten Berlin, Bonn und München.

Kontakt: jorg.wojahn@ec.europa.eu

Weitere Informationen: https://ec.europa.eu/germany/news/20190902-joerg-wojahn-berlin_de


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