Beitrag im Newsletter Nr. 9 vom 6.5.2021

Neues Miteinander im Netz: Jung, digital, engagiert

Claudia Haas

Inhalt

Das Internet für das Gemeinwohl nutzen
Online und vernetzt: Neue Modi der Wissensproduktion
Demokratisierung von Informationen durch Participatory Mapping
Neues Miteinander im Netz: Engagement für eine bessere Diskurskultur
Jung. Digital. Engagiert. – Und privilegiert?
Engagement in Zeiten der Pandemie
Literatur
Autorin
Redaktion

Das Internet für das Gemeinwohl nutzen

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Aspekten der Digitalisierung weist auf große Veränderungen in beinahe allen Bereichen unseres Lebens hin, die durch digitale Medien und Technologien angetrieben sind. Wir verbringen mehr Zeit im Netz, viele unserer sozialen Kontakte pflegen wir dort. Wir diskutieren und streiten im Internet, wir finden uns zusammen, unterstützen uns, suchen nach Informationen. Die innovativen Wege der Kommunikation und Vernetzung, die das Internet bietet, wirken sich besonders auf unser soziales Miteinander aus. Nicht zuletzt davon betroffen ist auch das freiwillige Engagement.

Welche tiefgreifenden Veränderungen der Einsatz von Technologien für die ehrenamtliche Beteiligung an gemeinnützigen Organisationen und Projekten hat, stellt das Projekt Jung. Digital. Engagiert. des Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft heraus. Es knüpft dabei thematisch an den Dritten Engagementbericht an, in dem bürgerschaftliches Engagement mit dem Schwerpunkt »Zukunft Zivilgesellschaft: Junges Engagement im digitalen Zeitalter« beleuchtet wird und der im Sommer 2020 veröffentlicht wurde.

Die Möglichkeiten des Internets und der sozialen Medien ergänzen und unterstützen das Engagement vor Ort auf produktive Weise. Insbesondere junge Menschen nutzen digitale Technologien, um sich entsprechend ihrer individuellen Interessen und zeitlich unabhängig gesellschaftlich engagieren zu können. Jung. Digital. Engagiert. zeigt in seiner Portraitreihe, wie sich junge Engagierte im Sinne des Gemeinwohls mit Digitalisierungsberatungen, technischen Entwicklungen, Expert*innenwissen oder kreativen Ideen für die Zivilgesellschaft einsetzen. Diese jungen Menschen stehen exemplarisch für eine ganze Generation von digital Engagierten, die mit ihrem Einsatz etwa die Verbreitung einer App für medizinische Notsituationen vorantreiben, Diskurse formen und gemeinwohlorientierte Technologien entwickeln. Eingebettet sind die Porträts in den wissenschaftlichen Kenntnisstand zu sechs Engagementfeldern, die in diesem Artikel stellenweise beleuchtet werden. Die Maxime der Kooperation und der gegenseitigen Unterstützung zieht sich durch alle Felder dieses neuen Engagements.

Weitere Informationen zum Projekt Jung. Digital. Engagiert.

Zum Dritten Engagementbericht

Online und vernetzt: Neue Modi der Wissensproduktion

Seit Bestehen des Internets sind nicht nur Unmengen an Informationen öffentlich zugänglich geworden. Die Digitalisierung hat auch eine Vielzahl kollaborativer und partizipatorischer digitaler Praktiken hervorgebracht, wie zum Beispiel die kollektive Generierung von Wissen (z. B. Wikipedia), die gemeinsame Sammlung von (Geo-)Daten (z. B. ASB SCHOCKT) und der produktive Umgang mit Daten mit Erkenntniswert für die Zivilgesellschaft (z. B. Data Science for Social Good Berlin). Für etablierte Organisationen des Engagements, aber auch für kleine Vereine bringt die digitale Kollaboration eine entscheidende Neuerung im Engagement mit sich, indem sie neue Formen der Beteiligung ermöglicht. Online-Teilnahmen an Sitzungen, onlinebasierte Abstimmungen oder die Auseinandersetzung mit digitalen Daten und Materialien verdeutlichen die Wirksamkeit von digitalem Engagement. Dabei ändern digitale Infrastrukturen und Werkzeuge nicht nur die Mittel des zivilgesellschaftlichen Engagements, sondern auch die Themen und Inhalte (BMFSFJ, 2020). Exemplarisch wird im Folgendem das Participatory Mapping als Form des Crowdsourcing näher betrachtet.

Weitere Informationen zu ASB SCHOCKT

Weitere Informationen zu Data Science for Social Good Berlin

Demokratisierung von Informationen durch Participatory Mapping

Kollaborative Zusammenarbeit kann unter anderem in Crowdsourcing-Projekten erfolgen, bei denen eine digital vermittelte Arbeitsteilung unter einer prinzipiell unbeschränkten Anzahl von Nutzer*innen stattfindet, die sich an der Lösung einer Aufgabe oder Problemstellung beteiligen. Im Fokus des Crowdsourcing steht das Sammeln von Daten, beispielsweise über Luft- und Umweltverschmutzung oder über barrierefreie Orte. Eine Form des Crowdsourcing ist das Participatory Mapping (deutsch: partizipative Kartierung). Es folgt einem Bottom-up-Ansatz, der es Bürger*innen ermöglicht, mit ihrem Wissen und ihren Anliegen die Erstellung von Karten zu unterstützen und somit Grundlagen für Entwicklungsprozesse zu schaffen.

Im Gegensatz zum traditionellen Top-down-Ansatz, bei dem die Erstellung von Karten einer spezialisierten Gruppe wie Planer*innen, Ingenieur*innen etc. vorbehalten ist und die Zivilgesellschaft bestenfalls nur indirekt profitiert, weil vorwegnehmend Entscheidungen über die Daten getroffen werden, sammeln und bündeln die verschiedenen Beteiligten beim Participatory Mapping lokales Wissen, um räumliche Ideen und Planungen zu reflektieren, zu diskutieren und transparenter zu machen. Die Offenheit und Transparenz dieses Prozesses geben einer breiten Masse die Möglichkeit, sich an räumlichen Planungen und Entscheidungsprozessen in der eigenen Umgebung zu beteiligen.

Bei den zu kartierenden Daten kann es sich um konkret messbare Daten handeln, wie zum Beispiel Standorte von Straßen, Geschäften und Bushaltestellen, oder auch um qualitative Daten, wie etwa das Gefühl der Sicherheit, der Zugehörigkeit oder Barrierefreiheit. Solche qualitativen Daten sind Teil des lokalen Wissens – informelle Daten, die sich nur aus persönlichen, individuellen Erfahrungen an einem bestimmten Ort gewinnen lassen (Warner, 2015). Ein Beispiel für digitales Participatory Mapping ist das Projekt ASB SCHOCKT des Arbeiter-Samariter-Bunds. ASB SCHOCKT kartiert Laien-Defibrillatoren (Automatisierte Externe Defibrillatoren (AED-Geräte)) und zeigt den Standort des nächstgelegenen Gerätes sowie Informationen zu dessen Verfügbarkeit an (als Web-Karte und App). AED-Geräte können dabei von Laien gemeldet und registriert werden, zudem können sich Ersthelfer*innen eintragen. Ein anderes Beispiel ist die vom Verein Sozialhelden e.V. 2010 initiierte Wheelmap, eine Karte, auf der barrierefreie Orte verzeichnet sind. Sie erleichtert Menschen im Rollstuhl den Alltag und regt die Zivilgesellschaft an, mehr Orte rollstuhlgerecht zu gestalten.

Neues Miteinander im Netz: Engagement für eine bessere Diskurskultur

Ein weiteres Engagementfeld, das sich durch die Digitalisierung herauskristallisiert hat, betrifft die digitale Diskurskultur und politische Meinungsbildung. Digitale Räume für den Austausch von Meinungen sind zahlreich, die Diskurskultur in sozialen Medien, Kommentarsektionen und Nachrichtendiensten folgt allerdings anderen Strukturen als analoge Kommunikation. Nicht alle Nutzer*innen beachten in ihrer Kommunikation die Regeln der höflichen Umgangsform. Unzivile Kommunikationsformen wie Hasskommentare oder Trolling entziehen der öffentlichen Kontroverse faktisch den Boden (BMFSFJ, 2020, S. 46). In den letzten Jahren sind viele Engagement-Organisationen und -Projekte entstanden, die zumeist präventive Strategien zum Umgang bzw. zur Abwehr unziviler Kommunikation entwickelt haben. Die Facebookgruppe #ichbinhier zielt beispielsweise auf Intervention durch Facebook-Nutzer*innen ab, die dazu aufrufen, auf Hasskommentare mit sachlicher, konstruktiver und menschenfreundlicher Gegenrede zu reagieren, »um so den pauschalisierenden, abwertenden und aggressiven Stimmen in den Kommentarspalten etwas entgegenzusetzen«. Die Wirksamkeit solcher Gegenrede-Intervention wird durch eine Studie von Garland et al. (2020) belegt, die zu dem Ergebnis kommt, dass auf Gegenrede häufiger neutrale Rede folgt als auf Hassrede und eine Gegenrede insofern ein effektives Mittel ist, um einen zivilisierten Diskurs herbeizuführen, vor allem, wenn sie organisiert ist. Zivilgesellschaftliche Hassrede-Beratungs- und Vernetzungsstellen wie HateAid oder Das NETTZ bieten Unterstützung für Betroffene und betreiben Aufklärungs- sowie Bildungsarbeit. Einen anderen Ansatz verfolgt die Online-Plattform und App Diskutier Mit Mir: Sie bietet die Möglichkeit zum direkten Meinungsaustausch. Nutzer*innen werden dabei von einem Algorithmus mit Menschen verbunden, die andere Meinungen als sie selbst vertreten. In 1-zu-1-Chats können anschließend politische Themen anonym und kontrovers diskutiert werden.

Weitere Informationen zu #ichbinhier

Weitere Informationen zu HateAid

Weitere Informationen zu Das NETTZ

Weitere Informationen zu Diskutier Mit Mir

Jung. Digital. Engagiert. – Und privilegiert?

Neben der kollektiven Identität der Engagierten, ist auch die Betrachtung der individuellen Akteur*innen aufschlussreich. Erkenntnisse hierfür liefert u. a. die repräsentative Jugendbefragung des Dritten Engagementberichts, die sich explizit mit dem gesellschaftlichen Engagement junger Menschen zwischen 14 und 28 Jahren befasst. Knapp 64 Prozent aller Befragten gaben an, sich in den letzten zwölf Monaten für einen gesellschaftlichen Zweck eingesetzt zu haben. Hierdurch wird der hohe Stellenwert gesellschaftlichen Engagements im Leben junger Menschen deutlich. Zudem belegt die Studie den selbstverständlichen Umgang junger Menschen mit digitalen Medien. Immerhin 43 Prozent lassen sich als digital Engagierte beschreiben, die ihr Engagement teilweise, überwiegend oder sogar vollständig mittels digitaler Medien ausüben (BMFSFJ, 2020). Neben weiteren Erkenntnissen zu Inhalt, Form, Motivation und Organisation des Engagements von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, werden jedoch auch soziale Ungleichheiten deutlich. Es zeichnet sich ein deutliches bildungsbezogenes Gefälle im Engagement ab, denn Jugendliche, die eine Haupt- oder Realschule besuchen, haben seltener ein freiwilliges Engagement als Schüler*innen vom Gymnasium. Die Differenzen zwischen Jugendlichen mit unterschiedlichen Bildungswegen sind bei eher niedrigschwelligen Online-Aktivitäten (z. B. das Kommentieren politisch-gesellschaftlicher Beiträge) jedoch geringer als bei höherschwelligen Handlungen (z. B. Betreuung einer Website/Blog mit politisch-gesellschaftlichem Inhalt). Dementsprechend empfiehlt der Dritte Engagementbericht u. a., diese niedrigschwelligen Formen der Online-Aktivitäten nicht vorschnell als wirkungslos oder als »Slacktivism« abzuwerten, sondern sie vielmehr als Ausdruck bzw. Positionierung abseits der komplexen und komplizierten Sprache der Politik zu verstehen.

Engagement in Zeiten der Pandemie

Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien haben insbesondere in Zeiten der Corona-Pandemie an gesellschaftlicher Relevanz zugenommen, indem eine Umstellung auf digitale Formen der Zusammenarbeit zwangsläufig erforderlich wurde. Da ein soziales Miteinander im physischen Raum im Zuge der Maßnahmen gegen die Ausbreitung von COVID-19 derzeit nur eingeschränkt möglich ist, finden Engagement, solidarische Gesten sowie kollektive Diskussions- und Aushandlungsprozesse vermehrt im virtuellen Raum statt (siehe Blogartikel »COVID-19 und die gelebte Solidarität im Netz«). Menschen bieten ihre Hilfe in Portalen zur Nachbarschafts- oder Kiezhilfe an oder beteiligen sich an Online-Petition zur Hilfe von besonders betroffenen sozialen Gruppen. Gleichzeitig führt die Corona-Pandemie aber auch zu einem deutlichen Rückgang der Spendenbereitschaft sowie der Mitgliederzahlen in Organisationen, wie im ZiviZ Discussion Paper »Folgen der Coronakrise für Engagement und Zivilgesellschaft« herausgestellt wurde. Die Aneignung und Vermittlung digitaler Kompetenzen stellt viele Organisationen vor Herausforderungen, folgert das ZiviZ Policy Paper »Digital durch die Krise« – wenngleich die Potenziale der Digitalisierung für den gemeinnützigen Bereich durchaus erkannt werden, indem zum Beispiel die Kommunikation über Zeit- und Raumgrenzen hinweg ermöglicht wird und gänzlich neue virtuelle Räume für kreatives und innovatives Engagement entstehen.

Zum Blogartikel »COVID-19 und die gelebte Solidarität im Netz«

Zum ZiviZ Discussion Paper »Folgen der Coronakrise für Engagement und Zivilgesellschaft«

Zum ZiviZ Policy Paper »Digital durch die Krise«


Literatur

[BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020). Dritter Engagementbericht – Schwerpunkt: Zukunft Zivilgesellschaft: Junges Engagement im digitalen Zeitalter. (BT-Drs. 19/19320). Berlin.

Dolata, U., & Schrape, J.-F. (2018). Swarms, Crowds, Communities, Movements – eine Typologie kollektiver Formationen im Internet. In M. Vilain & S. Wegner (Hrsg.), Crowds, Movements & Communities?! Potenziale und Herausforderungen des Managements in Netzwerken (S. 17–35). Nomos. https://doi.org/10.5771/9783845283050

Garland, J., Ghazi-Zahedi, K., Young, J.-G., Hébert-Dufresne, L., & Galesic, M. (2020). Countering hate on social media: Large scale classification of hate and counter speech. arXiv preprint arXiv:2006.01974. http://arxiv.org/abs/2006.01974

Gruzd, A., Wellman, B., & Takhteyev, Y. (2011). Imagining Twitter as an Imagined Community. American Behavioral Scientist, 55(10), 1294–1318. https://doi.org/10.1177/0002764211409378

Warner, C. (2015). Participatory Mapping: A Literature Review of Community-based Research and Participatory Planning. Social Hub for Community and Housing, Faculty of Architecture and Town Planning, Technion.


Beitrag im Newsletter Nr. 9 vom 6.5.2021
Für den Inhalt sind die Autor\*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

Claudia Haas arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin der Fachveranstaltungen zum Dritten Engagementbericht am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft. Die Fachveranstaltungen ermöglichen den Austausch über die gewonnenen Erkenntnisse des Berichts. Zuvor wirkte Claudia Haas als Referentin der Geschäftsstelle am Dritten Engagementbericht mit und leitete das Projekt Jung. Digital. Engagiert., das Beispiele des vielfältigen, digitalen Engagements anhand von individuellen Portraits junger Menschen vorstellt. Ihr Forschungsinteresse gilt den Wandlungsprozessen in der Zivilgesellschaft, der Digitalisierung des Ehrenamts sowie der Rezeptions- und Wirkungsforschung.

Kontakt: claudia.haas@hiig.de


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