Beitrag im Newsletter Nr. 23 vom 19.11.2020

Vorbereitung einer Ratsempfehlung zur Mobilität junger Freiwilliger und zur grenzüberschreitenden Solidarität

Manfred von Hebel

Inhalt

Freiwilligenmobilität und grenzüberschreitende Solidarität
Mandat und Zusammensetzung der Expert/-innengruppe
Entwicklungen seit 2008
Politische Empfehlungen
Fazit
Endnoten
Autor
Redaktion

Freiwilligenmobilität und grenzüberschreitende Solidarität

Am 20. November 2008 hat der Rat der Europäischen Union eine Empfehlung über die Mobilität junger Freiwilliger innerhalb der Europäischen Union[1] angenommen. Maßgebliche Entwicklungen im Freiwilligenbereich in den vergangenen Jahren haben eine Neuauflage der Ratsempfehlung erforderlich gemacht, die nun im Rahmen der Portugiesischen Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2021 verabschiedet werden soll. Das Spektrum der geplanten Ratsempfehlung wurde gegenüber der ursprünglichen Reichweite um den Bereich der grenzüberschreitenden Solidarität erweitert.

Der vorliegende Artikel beschreibt die Vorarbeiten zu einer erneuerten Ratsempfehlung.

Mandat und Zusammensetzung der Expert/-innengruppe

Zur Vorbereitung des Kommissionsvorschlags zu einer erneuerten Ratsempfehlung zur Mobilität junger Freiwilliger hat die Europäische Kommission 2019 eine Expert/-innengruppe einberufen. Auftrag der Gruppe war es, politische Empfehlungen zu erarbeiten, die in den Vorschlag zu einer erneuerten Ratsempfehlung einfließen sollen.

Die Expert/-innengruppe setzte sich zusammen aus Vertreter/-innen von Mitgliedstaaten, dem Resource Centre für das Europäische Solidaritätskorps und weiteren Organisationen aus dem Freiwilligensektor, wie z. B. dem Europäischen Jugendforum und dem Centre Européen du Volontariat.

Begleitet wurde die Arbeit der Gruppe von einer Studie zur Identifikation von Hindernissen für grenzüberschreitende Solidarität in Europa. Die Ergebnisse der Arbeit der Expert/-innengruppe werden voraussichtlich Ende des Jahres von der Europäischen Kommission veröffentlicht.

Entwicklungen seit 2008

Die Empfehlung des Rates vom November 2008 über die Mobilität junger Freiwilliger innerhalb der Europäischen Union hatte die Mitgliedstaaten ermutigt, Hindernisse für die grenzüberschreitende Mobilität abzubauen und möglichst allen jungen Menschen die Teilnahme an Freiwilligenaktivitäten zu ermöglichen.

Die Europäische Jugendstrategie für die Jahre 2019 bis 2027[2] legt besondere Schwerpunkte auf

• den Zugang zu Freiwilligenaktivitäten und grenzüberschreitender Solidarität für alle jungen Menschen und die Beseitigung entsprechender Hürden;

• das solidarische Engagement junger Menschen und die Stärkung der Komplementarität zwischen europäischen, nationalen, regionalen und lokalen Formaten sowie

• die Verbreitung guter Praxis und die Anerkennung von Kompetenzen und Fähigkeiten, die im Rahmen von freiwilligem Engagement erworben werden.

Die Empfehlung des Rates von 2008 beinhaltet bereits wesentliche Aspekte zur Mobilität von Freiwilligen, die in der aktuellen Jugendstrategie aufgegriffen werden. Die signifikanten Veränderungen im Freiwilligenbereich verlangen jedoch eine Erneuerung des Textes. Darüber hinaus sind zentrale Elemente der ursprünglichen Empfehlung nach wie vor nicht umgesetzt. Die wesentlichste Entwicklung in diesem Zusammenhang ist die Einführung des Europäischen Solidaritätskorps im Oktober 2018. Neben einer deutlichen Anhebung des Budgets für die Förderung von Mobilität im Freiwilligenbereich sind es vor allem die Erweiterung des Handlungsspektrums um den Bereich solidarischen Engagements und die größere Vielfalt von Aktivitäten, die den Unterschied zum früheren Europäischen Freiwilligendienst ausmachen.

Auch in anderer Hinsicht hat sich der Freiwilligensektor in den letzten Jahren verändert. So stehen z. B. die im europäischen Kontext oft als Voluntourism bezeichneten Programme, also die meist von kommerziellen Trägern angebotene Kombination von freiwilligen Tätigkeiten und touristischen Aktivitäten, stärker als früher in Konkurrenz zu den Angeboten klassischer Freiwilligendienste. Darüber hinaus hat der Bereich virtuellen freiwilligen Engagements mit der Erweiterung technischer Möglichkeiten und nicht zuletzt durch die erheblichen Einschränkungen physischer Mobilität durch die Corona-Pandemie rasant an Bedeutung gewonnen.

Politische Empfehlungen

Die Expert/-innengruppe hat die folgenden politischen Empfehlungen für eine überarbeitete und erneuerte Ratsempfehlung ausgesprochen:

Aufbau und Entwicklung von Kapazitäten

Das Thema Aufbau und Entwicklung von Kapazitäten hat nach Ansicht der Expert/-innengruppe auch für die überarbeitete Empfehlung eine hohe Relevanz. Dazu ist vor allem wichtig, eine nachhaltige finanzielle Stabilität von Organisationen im Freiwilligenbereich zu erreichen, um zu gewährleisten, dass sie auch künftig in der Lage sind, qualitativ hochwertige Angebote zum freiwilligen Engagement junger Menschen anzubieten.

Einbeziehung der Gemeinschaft und gesellschaftliche Wirkungen

Die Ratsempfehlung sollte klar die zwei zentralen Nutzergruppen grenzüberschreitenden freiwilligen Engagements anerkennen, nämlich zu einen die individuellen Teilnehmer/-innen, zum anderen das Gemeinwesen. Dazu sollte der Mehrwert des interkulturellen Austauschs für die Gesellschaft weiter unterstrichen werden. Freiwilligenprogramme sollten Vorkehrungen für den Fall treffen, dass keine physische grenzüberschreitende Mobilität möglich ist und Veränderungen so vorgenommen werden können, dass eine gesellschaftliche Wirkung weiterhin sichergestellt ist.

Komplementarität

Es gibt so gut wie keine Erkenntnisse über das Zusammenspiel von europäischen, nationalen und regionalen Formaten freiwilligen Engagements. Nach Ansicht der Experten/-innen sollten die Mitgliedstaaten aufgerufen werden, mehr Komplementarität zwischen den unterschiedlichen Formaten und Initiativen herzustellen. Voraussetzungen dafür sind u. a. die gegenseitige Anerkennung von qualitativen Standards, die Aufhebung bürokratischer Hindernisse für Organisationen sowie der Aufbau einer Zusammenarbeit zwischen europäischen, nationalen und regionalen Formaten, die es im Krisenfall ermöglicht, dass Freiwillige unbürokratisch und flexibel von einem in ein anderes Format wechseln können.

Netzwerke und das Teilen von Wissen

Nach Ansicht der Expert/-innen leistet das voneinander Lernen einen wesentlichen Beitrag zum Abbau vorhandener Hindernisse im Freiwilligenbereich. Die Ratsempfehlung sollte deshalb diesen Aspekt z. B. durch eine bessere Nutzung vorhandener Ressourcen wie Youth Wiki, SALTO[3] oder das Europäische Jugendportal[4] durch Mitgliedstaaten und Organisationen stärken. Weitere unterstützende Elemente sind die innovative Weiterentwicklung und Schaffung neuer Formen freiwilligen Engagements, die Schaffung von Möglichkeiten des voneinander Lernens sowie der Aufbau und die Unterstützung von Alumni-Strukturen sowie Netzwerken von Fachkräften und politisch Verantwortlichen.

Zugang

Um sicherzustellen, dass der Zugang zu grenzüberschreitenden freiwilligen und solidarischen Aktivitäten eine wirkliche Möglichkeit für alle jungen Menschen sein kann, halten die Mitglieder der Expertengruppe die folgenden Maßnahmen für erforderlich:

• den Aufbau von mehr Möglichkeiten für das Engagement junger Menschen mit geringeren Chancen;

• die Nutzung neuer, alternativer und flexibler Formen freiwilligen Engagements;

• die Entwicklung von Konzepten zur Motivation junger Menschen für grenzüberschreitende Aktivitäten;

• die Vereinfachung von Bewerbungs- und Berichtsverfahren;

• die Bewerbung von unterstützenden Instrumenten wie Mobilitätskarten und andere Anreize;

• gleiche Versicherungsbedingungen für alle Gruppen von Freiwilligen sowie

• den Ausbau von Kurz- und Teilzeitmöglichkeiten im Bereich freiwilliger und solidarischer Aktivitäten.

Administrative Hürden

Die Expert/-innen schlagen insbesondere Maßnahmen vor, um Freiwilligenaktivitäten für Teilnehmende als auch für Organisationen einen möglichst unkomplizierten Rahmen zu geben. Dringend erforderlich ist die Erleichterung des Zugangs zu Freiwilligenaktivitäten u. a. durch die vereinfachte Beantragung von Visa und Aufenthaltstiteln, die Anerkennung von grenzüberschreitenden solidarischen Aktivitäten als Grund für die Erteilung von Visa sowie die Digitalisierung und Vereinfachung bürokratischer Prozesse.

Bewusstsein schaffen

Ein Bewusstsein für freiwilliges und solidarisches Engagement zu schaffen, geht weit über die Verbreitung von Informationen hinaus. Auch wenn Informationen zur Verfügung stehen, bedeutet das oft nicht, dass mögliche Teilnehmer/-innen und Organisationen den Mehrwert und die Vorzüge entsprechender Maßnahmen erkennen. Es ist deshalb notwendig, das Wissen über die Wirkungen und den individuellen und gesellschaftlichen Mehrwert freiwilligen Engagements zu verbreiten. Darüber hinaus sollte unter jungen Menschen das Bewusstsein für die Bedeutung interkultureller Kompetenzen sowie von Sprachenlernen, europäischer Bürgerschaft und Solidarität geschärft werden.

Schutz der Teilnehmenden

Die Gesundheit und Sicherheit von Teilnehmenden in allen Phasen von freiwilligen Aktivitäten ist von höchster Priorität. Dieser Schutz muss die Freiwilligen selbst, die Fachkräfte und die Personen einschließen mit denen Freiwillige arbeiten. Die Maßnahmen zum Schutz von Teilnehmenden müssen ausgebaut werden, damit Probleme erkannt werden können bevor sie entstehen und auf Notfälle schnell und angemessen reagiert werden kann.

Sozialer und rechtlicher Status

Der soziale und rechtliche Status von Freiwilligen ist sowohl im Heimat- als auch im Aufnahmeland oft unklar. Das kann dazu führen, dass Freiwillige keinen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen im Aufnahmeland bekommen und/oder Ansprüche aus den Sozialversicherungssystemen im Heimatland verlieren. Die Expert/-innen schlagen vor, den sozialen und rechtlichen Status von Freiwilligen anzuerkennen und sicherzustellen sowie Hindernisse abzubauen, die Freiwillige in prekäre Lebensverhältnisse bringen können. Dazu ist ein gemeinsames europäisches Verständnis über freiwillige und solidarische Aktivitäten und deren Formate erforderlich.

Digitale Formen freiwilligen Engagements

Seit Verabschiedung der Ratsempfehlung von 2008 und vor allem durch die aktuelle Corona-Krise sind vielfältige digital gestützte Formen freiwilligen Engagements entstanden. Digitale Formen grenzüberschreitender Aktivitäten können die physische Mobilität ergänzen, zum Beispiel zur Motivation, Vor- und Nachbereitung oder Begleitung von Freiwilligen. Mitgliedstaaten und Europäische Kommission sollten diese Entwicklung in die erneuerte Ratsempfehlung aufnehmen. Dazu sollten digitale Formen freiwilligen Engagements als Möglichkeit anerkannt werden, grenzüberschreitende Solidarität zu stärken. Sie bieten darüber hinaus jungen Menschen Beteiligungsmöglichkeiten, die sonst aufgrund von Einschränkungen keine Möglichkeit zur Teilnahme haben.

Umweltaspekte

In den vergangenen Jahren hat die Sorge um die Umwelt insbesondere unter jungen Menschen erheblich an Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig trägt die grenzüberschreitende Mobilität junger Menschen, besonders bei der Überwindung großer Distanzen, zu einer Verschärfung der Klimasituation bei. Mitgliedstaaten und Europäische Kommission sind gefordert, diesem Umstand bei der weiteren Entwicklung von Formaten grenzüberschreitender Mobilität Rechnung zu tragen. Lernen Neben lokalen Gemeinschaften profitieren in erster Linie die Freiwilligen selbst von ihrer Teilnahme an grenzüberschreitenden Projekten. Sie erwerben Fähigkeiten und Kompetenzen, die zu ihrer persönlichen, sozialen und beruflichen Entwicklung beitragen. Dieser Aspekt sollte auch für die erneuerte Ratsempfehlung einen hohen Stellenwert haben. Entsprechend sollten die Teilnehmenden vor, während und nach ihren Aktivitäten strukturiert begleitet und ihre Lernerfahrungen gemeinsam dokumentiert werden.

Anerkennung

Nach wie vor muss daran gearbeitet werden, das hohe Lernpotenzial und die Möglichkeiten persönlicher Entwicklung durch die Teilnahme an freiwilligen Aktivitäten anzuerkennen und sichtbar zu machen. Die Organisatoren von grenzüberschreitenden freiwilligen und solidarischen Aktivitäten sollten sicherstellen, dass die Lernerfahrungen von Teilnehmer/-innen in angemessener Weise identifiziert, dokumentiert und - wenn möglich - validiert und anerkannt werden.

Qualitätssicherung

Sich grenzüberschreitend freiwillig zu engagieren ist für junge Menschen in den vergangenen Jahren zunehmend attraktiver geworden. Umso mehr stellt sich die Frage nach der Qualität der Angebote. Grenzüberschreitende freiwillige und solidarische Aktivitäten sollten einer Analyse unterzogen werden, die sicherstellt, dass sie sich tatsächlich auf einen identifizierbaren Bedarf beziehen und zu einem sozialen oder gesellschaftlichen Mehrwert beitragen. Organisatoren müssen eine klare Vorstellung von den Zielen haben, die sie mit ihrem Projekt erreichen wollen und Indikatoren entwickeln, mit denen sich die Erreichung dieser Ziele nachvollziehen lässt.

Forschung

Schließlich muss die Forschung im Freiwilligenbereich deutlich ausgebaut werden, um die vorhandenen Wissenslücken zu füllen und eine bessere Basis für künftiges politisches und praktisches Handeln zu schaffen.

Fazit

Die Corona-Pandemie hat den Handlungsdruck, den es auf europäischer Ebene zu den meisten der oben genannten Themen gibt, noch einmal deutlich erhöht. Zwar haben die Förderprogramme für Teilnehmer/-innen und Organisationen in der Regel flexible Lösungen für akute Problemlagen ermöglicht, insgesamt hat sich aber die oft prekäre Ausgangssituation vieler Träger und Einrichtungen im Freiwilligenbereich durch die Krise weiter verschlechtert. Umso wichtiger wird es sein, auch mithilfe einer erneuerten Ratsempfehlung, dringend erforderliche europäische Lösungen für diese und andere offene Fragen im Freiwilligenbereich zu finden.


Endnoten

[1] https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2008:319:0008:0010:DE:PDF

[2] https://ec.europa.eu/youth/policy/youth-strategy_de

[3] https://www.salto-youth.net/

[4] https://europa.eu/youth/EU_de


Beitrag im Newsletter Nr. 23 vom 19.11.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor

Manfred von Hebel, Jahrgang 1966 in Bonn, ist Diplom-Pädagoge und stellvertretender Lei-ter von JUGEND für Europa, der deutschen Agentur für die EU-Programme Erasmus+ JU-GEND in Aktion und Europäisches Solidaritätskorps. Er war Mitglied der Expert/-innengruppe der Europäischen Kommission zur Überprüfung und Erneuerung der Ratsemp-fehlung zur Mobilität junger Freiwilliger.

Kontakt: vonhebel@jfemail.de


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