Beitrag im Newsletter Nr. 22 vom 4.11.2021

Engagement in Afghanistan

Ahmad Shah Karimi

Inhalt

Afghanische Jugend: zum Schweigen gebracht, aber nicht aufgehalten
AYEPOS Anfänge
AYEPOs Einfluss
Herausforderungen bei der Etablierung von AYEPO
Das Überleben von AYEPO während des Falls von Afghanistan
AYEPOs Zukunft

Afghanische Jugend: zum Schweigen gebracht, aber nicht aufgehalten

Als Afghane, der jahrzehntelang unter politischen Unruhen, wirtschaftlicher Unsicherheit und tiefgreifenden Konflikten litt, hatte ich eine Vision von einer neuen Zukunft, als ich die Afghanistan Youth Empowerment and Peacebuilding Organization (AYEPO) gründete. Auf Grundlage dieser Vision eines friedlichen Landes, in dem Afghan*innen verschiedener Stämme und ethnischer Gruppen in Harmonie leben, entstand AYEPO im Januar 2019 als ein Raum für Jugendliche, in dem sie Frieden in ihren Gemeinschaften erleben und vorleben können. Für mich begann alles in meinem kleinen Heimatdorf in Zentralafghanistan in Ghazni.

AYEPOS Anfänge

Trotz der täglichen Schwierigkeiten, die das Leben in Afghanistan mit sich brachte, bot mein Elternhaus die Bildung, die Sicherheit und die Liebe, die es mir und meinen Brüdern ermöglichten, sich eine andere Realität vorzustellen. Inspiration fand ich bei meiner Mutter, einer engagierten alleinerziehenden Frau, die uns mit Werten wie Gleichheit, Integration, Mitgefühl und sozialer Verantwortung erzog. Sie ermöglichte mir Bildung, obwohl sie selbst ungebildet war. Sie lehrte mich die Fähigkeit, tiefe Beziehungen aufzubauen. Sie ermutigte mich und meine Brüder, die Veränderung zu sein, die wir in der Welt sehen wollen. Dieses Zuhause diente als Modell für die Hoffnung auf das, was möglich war, eine Realität, die sich in der afghanischen Gesellschaft noch nicht widerspiegelte.

Ich habe AYEPO gegründet, weil ich die Notwendigkeit sah, junge Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenzubringen, um in Dialog miteinander zu treten und eine friedenspolitische Rolle für sich zu finden und einzunehmen. Afghanistan ist ein junges Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung (63,5 %) unter 25 Jahre alt sind. Während der seit über vier Jahrzehnten andauernde Krieg viele junge Frauen und Männer an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt hat, gibt es immer noch die Möglichkeit, die Jugend durch von Jugendlichen geführte Plattformen wie AYEPO zusammenzubringen. So hat AYEPO mit Hunderten von Jugendlichen zusammengearbeitet, insbesondere jungen Frauen und Mädchen, und sie erreicht, indem sie ihnen Wissen, Fähigkeiten, Werkzeuge und Visionen vermittelt hat, damit sie in ihren Gemeinden Veränderungen bewirken können. Jugendorganisationen wie AYEPO sind unverzichtbare Plattformen, wenn es eine Chance für Frieden in unserem Land geben soll.

Nach der Gründung von AYEPO im Januar 2019 (mit Sitz in Kabul, obwohl sich unser Team derzeit im Exil befindet) haben das Team und ich die Mission der Organisation durch die Durchführung von Programmen zur Friedensförderung – Vermittlung von Führungskompetenzen, Konfliktbewältigung und kreative Projektentwicklung - gefördert. Ich glaube fest an das Engagement und die Einbeziehung von Jugendlichen als einen Weg zu Frieden und Harmonie an der Basis. Daher konzentriert sich AYEPO als friedensfördernde und jugendliche Empowerment-Organisation auf (a) die Befähigung der Jugend mit Werkzeugen zur Friedensschaffung und persönlichen Veränderung, (b) die Schaffung einer Plattform, auf der ungleiche junge Menschen voneinander lernen, wie sie zusammenarbeiten können und wie sie mit Ideen für positive Veränderungen in ihren eigenen Gemeinschaften mobilisieren können, und (c) die Vermittlung von Werten wie Toleranz gegenüber Unterschieden, Gleichberechtigung der Geschlechter, friedliche Konfliktlösung und positives Engagement in der Gemeinschaft.

AYEPOs Einfluss

Normalerweise lädt AYEPO Jugendliche verschiedener Ethnien und Kulturen ein, an unseren Programmen teilzunehmen. Einige sind nervös, wenn sie zum ersten Mal zusammenkommen. Sie wissen nicht, wie sie mit anderen umgehen sollen, die ihnen fremd sind und aus verschiedenen Regionen Afghanistans kommen. Sobald sie aber zusammen sind, sprechen sie über die Herausforderungen, mit denen sie in ihren eigenen Gemeinschaften konfrontiert sind. Sie teilen Geschichten, tauschen Ideen aus und finden Gemeinsamkeiten. Das führt dazu, dass sie sich zu entspannen beginnen und die Unterschiede der anderen zu schätzen lernen. Auch wenn sich einige von ihnen noch nie vorher getroffen haben, kommen sie sich näher, indem sie voneinander lernen. Sie bilden eine Gemeinschaft, die ihre Verschiedenheit respektiert. Sie werden wie eine kleine Familie.

Außerdem glaube ich, dass Frauen von Natur aus die Fähigkeit haben, andere zu stärken – dies rührt von meiner Kindheitserfahrung und der einflussreichen Rolle her, die meine Mutter in meinem Leben gespielt hat. Ihre Präsenz und Weisheit lehrten mich, Vertrauen in das zu haben, was Frauen tun können. Dies übertrug sich auf AYEPOs Fokus auf die Stärkung von Frauen. AYEPO führte viele Projekte durch, die sich darauf konzentrierten, junge Frauen und Mädchen zu befähigen, Veränderungen voranzutreiben, indem sie andere Frauen befähigten.

Die Organisation ging auch Partnerschaften mit internationalen Organisationen in den Vereinigten Staaten, den Niederlanden, Deutschland und Australien ein und bot unter anderem virtuelle und persönliche Friedenscamps, Schulungen für Friedensführer*innen und Kunstwettbewerbe an. Inspiriert durch ihre Erfahrungen mit AYEPO starteten einige unserer Teilnehmenden ihre eigenen Initiativen und wandten das Gelernte in ihrem persönlichen Leben an. Diese Arbeit trug dazu bei, dass sich der Effekt in den Gemeinden ausbreitete.

Herausforderungen bei der Etablierung von AYEPO

Es ist nicht leicht, eine gemeinnützige Organisation zu leiten, vor allem im konfliktzerissenen Afghanistan, wo das tägliche Leben ein Kampf und die wirtschaftliche Lage aufgrund der politischen Unruhen extrem instabil ist. Es hat nicht nur mich sehr viel Mühe und Ausdauer gekostet, sondern auch Opfer und Unterstützung von meiner Familie gebraucht, einschließlich des durch meine Arbeit bedingte voneinander getrennt leben, um AYEPO an diesen Punkt zu bringen. Für mich war es eine große Herausforderung, etwas von Grund auf aufzubauen, für die Finanzierung und die Sichtbarkeit auf nationaler und internationaler Ebene zu kämpfen.

Dennoch habe ich meine Familie und meine Heimatstadt in diesen Jahren so oft wie möglich besucht. Jede Reise hat mich geerdet und mir neue Energie gegeben, um meine Arbeit fortzusetzen und mehr junge Menschen durch AYEPO zu befähigen. Darüber hinaus unterstützte mich ein engagiertes Team von 15 Friedensstifter*innen bei diesem Unterfangen. Gemeinsam führte unser AYEPO-Team zahlreiche Programme in ganz Afghanistan durch, die sowohl persönliche Veränderungen bei den Jugendlichen als auch Veränderungen in der Gemeinschaft bewirkten.

Ab Mai 2021 hatte AYEPO viele Projekte und Schulungen geplant. Eines davon war ein Peace Camp, das vom 7. bis 11. Juni in Zusammenarbeit mit Organisationen in den USA, Australien und Deutschland durchgeführt wurde. Dieses einzigartige Programm brachte 20 aufstrebende Friedensführer*innen aus 11 Provinzen in ganz Afghanistan zusammen, um sie mit Werkzeugen für die Friedensstiftung und die persönliche Transformation und Heilung auszustatten. Unsere Erwartung war, dass sich durch sie unsere Bemühungen auf ihre Gemeinden im ganzen Land ausbreiten würden, indem sie ihre eigenen Visionen und kreativen Lösungen zur Bewältigung der spezifischen Probleme und Konflikte in ihrer Gemeinde einsetzen.

Das Überleben von AYEPO während des Falls von Afghanistan

Leider verschlechterte sich die Sicherheitslage in Afghanistan im Juli so sehr, dass wir gezwungen waren, alle unsere Programme einzustellen. Im August änderte sich das Leben in Afghanistan vollständig, als die Taliban eine Provinz nach der anderen einnahmen. Der Fall von Kabul am 15. August bedeutete nicht nur den Zusammenbruch einer Regierung, sondern auch das Zerfallen von Träumen, Hoffnungen und Visionen der afghanischen Bevölkerung, insbesondere der Jugend und der Frauen.

Die Taliban übernahmen die Macht in Kabul, und am selben Tag floh der damalige Präsident Ashraf Ghani aus dem Land – und verriet sein Volk. Er ließ eine Generation junger Menschen zurück, die mit den Höhen und Tiefen der Demokratie aufgewachsen war und nun mit der Ungewissheit unter den Taliban zurechtkommen musste – einer Gruppe ohne Glauben, Respekt und Toleranz für kulturelle Vielfalt, Menschen- und Frauenrechte und Demokratie.

Meine Arbeit in den Bereichen Friedensförderung und Stärkung der Rolle der Frau sowie meine Verbindungen zu vielen internationalen Organisationen brachten mich in Lebensgefahr. Ich wusste an diesem Tag, dass meine Zeit in Kabul vorbei war. Ich kontaktierte Freunde in Organisationen, mit denen ich in den USA (Euphrates Institute), Deutschland (Frühlingserwachen), den Niederlanden (The United Networks of Young Peacebuilders) und anderswo zusammengearbeitet hatte, und bat sie um Hilfe bei der Ausreise. Sie nahmen Kontakt zu potenziellen Ansprechpartner*innen auf und füllten verschiedene Anträge für mögliche Visa und Formulare für die Evakuierung aus.

Am 25. August wurde ich zusammen mit 11 Mitgliedern des AYEPO-Teams angewiesen, zum Flughafen zu fahren und mich auf die Evakuierung am nächsten Tag vorzubereiten. Es war schwierig, in den Flughafen zu gelangen. Tausende von Menschen versuchten verzweifelt, ins Innere und dann in die Luft zu gelangen. Wie durch ein Wunder und mit der Unterstützung von Freunden aus den USA wurden wir von Marinesoldaten in den Flughafen gebracht. Am 26. August wurden wir nach Katar evakuiert und einige Tage später auf den US-Luftwaffenstützpunkt in Ramstein, Deutschland, gebracht. In Deutschland übergaben uns die US-Behörden an die deutschen Behörden und die Bundespolizei.

Als wir hier ankamen, wussten wir noch nicht, dass der Prozess der Neuansiedlung sehr kompliziert ist. Aber wir haben Freunde, die sich für uns einsetzen, und so sind wir zuversichtlich, dass unser Status bald geklärt sein wird.

AYEPOs Zukunft

Inmitten dieser Schwierigkeiten ist es aufregend, hier in Deutschland zu sein. Die Möglichkeiten scheinen unendlich zu sein. Ich hoffe, dass ich die Arbeit von AYEPO wiederaufnehmen kann, um junge Menschen in Afghanistan mithilfe moderner Technologien zu erreichen. Dennoch ist die Zukunft von AYEPO unklar, zum Teil wegen meines Übergangsstatus in Deutschland, aber auch, weil ein Teil von mir noch in Afghanistan bei meiner Familie ist. Darüber hinaus mache ich mir Sorgen um meine jüngeren Brüder, die an anderen Orten leben. Eine weitere Folge der afghanischen Diaspora ist das Auseinanderbrechen so vieler Familien, was den Wiederansiedlungsprozess für alle Geflüchteten erschwert.

Jeder Afghane, der versucht, sich ein neues Leben aufzubauen, hat mit dieser Spannung zu kämpfen, in seiner Karriere und seinem Leben voranzukommen und gleichzeitig auf die Hinterbliebenen zurückzublicken und bei ihnen sein zu wollen. Auch wenn es jetzt schwierig ist, hoffe ich, mehr Menschen zu treffen, die mir helfen können, Wege zu finden, um meine Familie hier wieder mit mir zu vereinen. Ich freue mich auch darauf, kreative Lösungen zu entwickeln, um Jugendliche und Gemeinden in ganz Afghanistan zu erreichen.

Afghanistan ist ein schönes Land, das jetzt von den Taliban regiert wird. Die jungen Menschen, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen und einen enormen Beitrag zu den Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte geleistet haben, werden erneut an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Afghanische Mädchen und Frauen können nicht zur Schule, zur Universität und zur Arbeit gehen, die sozialen und kulturellen Räume schrumpfen und insgesamt leben die Jugendlichen und Frauen des Landes in einem Zustand der Verzweiflung und Unsicherheit.

Doch ich glaube, dass sich die Dinge ändern werden, dass eines Tages wieder eine neue Generation junger Menschen, Frauen und Mädchen das Land regieren wird, die eine gerechte, gleichberechtigte und wohlhabende afghanische Gesellschaft fördern werden. Auch wenn dies vorerst noch im Verborgenen geschieht, wird AYEPO dieser neuen Generation von afghanischen Führungspersönlichkeiten weiterhin dienen und sie für ein friedliches und integratives Afghanistan ausbilden.

Zum Schluss möchte ich mich bei allen Nationen bedanken, die an meiner Evakuierung beteiligt waren, darunter die USA und Deutschland. Ich bin dem deutschen Volk und unseren deutschen Freund*innen für ihre Gastfreundschaft und Fürsorge dankbar. Deutschland ist ein so schönes und gastfreundliches Land, in dem das Leben voller unendlicher Möglichkeiten zu sein scheint, besonders für diejenigen, die leidenschaftlich gerne Neues lernen.


Beitrag im Newsletter Nr. 22 vom 4.11.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor

Ahmad Shah Karimi ist der Gründer und Geschäftsführer der Afghanistan Youth Empowerment and Peacebuilding Organization (AYEPO).

Kontakt: ahmadshah.karimi12@gmail.com


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