Beitrag im Newsletter Nr. 19 vom 24.9.2020

Kompetenzentwicklung im Engagementbereich »Älterwerden und Pflegen« – aktuelle Erkenntnisse und notwendige Veränderungen

Prof. Dr. Elisabeth Bubolz-Lutz

Inhalt

Hinführung: Bürgerschaftliches Engagement im Kontext von Älterwerden und Pflegen – »zwischen allen Stühlen«, aber notwendiger denn je!
1. Zum aktuellen Bedarf an bürgerschaftlicher Solidarität im Krankheits- und Pflegefall
2. Bürgerengagement baut Brücken – aber es soll nicht als »Lückenbüßer« dienen
3. Begleitungsprofile – verstreut, unkoordiniert, »undercover« und kaum sichtbar
4. Kompetenzentwicklung durch Lernen im Bürgerschaftlichen Engagement – erfolgreiche Formate liegen vor
5. Dringend geboten: Strukturen mit Kompetenzzentren zur Stärkung des Bürgerengagements auf Bundes- und Länderebene sowie regionale Vernetzung
6. Handlungserfordernisse: Kompetenzentwicklung im Bürgerengagement – insbesondere als »Chefsache« der Politik
Endnoten
Autorin
Redaktion

Hinführung: Bürgerschaftliches Engagement im Kontext von Älterwerden und Pflegen – »zwischen allen Stühlen«, aber notwendiger denn je!

Bürgerschaftliches Engagement in Kontext von Älterwerden und Pflegen hat seinen Platz immer noch nicht gefunden. Obwohl mit Jahrhunderte alter Tradition – dem nachbarschaftlichen Kümmern um Kranke und Alte – existiert es heute von der Öffentlichkeit kaum mehr bemerkt. Im wohlfahrtsstaatlichen Denken scheint die Eigeninitiative von Bürgern kaum mehr notwendig. Die »Hilfen im Alltag«, von den Pflegekassen finanziert, scheinen den Bedarf abzudecken. Allein in Krisenzeiten – wie jüngst in der sog. Flüchtlingskrise – zeigt hier die Bürgergesellschaft »Flagge« und übernimmt fraglos und spontan dort notwendige Aufgaben, wo »Not am Mann« ist und staatliche Hilfe nicht »in die Gänge kommt«. Aber wie wir gerade an diesem Beispiel sehen: Sobald die aktuelle Notlage behoben scheint, rücken wieder andere Anliegen in den Fokus, das Engagement ebbt ab. So zeigt sich bürgerschaftliches Engagement zwar reaktionsschnell und flexibel, aber nicht auf Dauer handlungsfähig. Dies trifft in besonderer Weise für solche Bereiche zu, die weniger »salonfähig« sind: Älterwerden und Pflegen gehören dazu. Laut Freiwilligensurvey (2014/2017) sind nur 2,5 Prozent der Bevölkerung explizit in diesem Feld (Gesundheitsbereich) tätig [1].

So sind kritische Fragen bezüglich einer solchen Entwicklung angebracht – speziell interessiert, warum dieses Engagement »zwischen allen Stühlen« zu sitzen scheint, wie sich solches durchaus anspruchsvolles Engagement lernen lässt und welchen Wert es in einer »Gesellschaft des langen Lebens« und des »Lebenslangen Lernens« haben kann. Um es vorweg zu nehmen: Gerade dieses Engagement wird dringend benötigt, und hierfür hat der Staat Bedingungen und Strukturen zu schaffen, die es auf lange Sicht verlässlich und handlungsfähig machen. Hier besteht akuter Handlungsbedarf im Hinblick auf eine durchlässige und vernetzte Entwicklung von aus öffentlicher Hand finanzierten Rahmenbedingungen auf allen Ebenen, damit nicht ganze Bevölkerungsgruppen – wie z.B. die der chronisch kranken alten Menschen, der Pflegebedürftigen, der pflegenden Angehörigen – ins gesellschaftliche Abseits geraten. Und auch, damit das große Engagementpotenzial gerade der Älteren sich zum Wohle dieser besonders vulnerablen Gruppen entfalten kann.

1. Zum aktuellen Bedarf an bürgerschaftlicher Solidarität im Krankheits- und Pflegefall

Die besondere Schutzbedürftigkeit älterer Menschen und auch der besonders vulnerablen Gruppen unter ihnen wird gerade in Corona-Zeiten offensichtlich und bedarf einer verstärkten Aufmerksamkeit. So erscheint die Situation in der häuslichen Pflege äußerst alarmierend. Zwei aktuelle Studien werfen ein Licht auf die Nöte und Bedarfslagen dort. Sie zeigen damit auch auf, wie wichtig das solidarische Miteinander und Engagement in der Nachbarschaft ist. So hat eine Untersuchung der Professor*innen Horn & Schweppe (Universität Mainz, 2020) mit einer Befragung von 330 pflegenden Angehörigen ergeben, dass [2]

• ...die Risikogruppe der 2,6 Millionen pflegebedürftigen älteren Menschen, die zu Hause unter großer Beteiligung von Angehörigen gepflegt werden, in dieser Krise kaum von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit thematisiert werden. Autorin und Autor weisen darauf hin, dass die Pflegebedürftigen und ihre pflegenden Angehörige als »höchst vernachlässigte Gruppe« stärker in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt werden müssten.

• ...sich die Pflegesituation von älteren Menschen, die zu Hause betreut werden, während der Pandemie deutlich verschlechtert hat. Dies betrifft sowohl die Pflegebedürftigen als auch die pflegenden Angehörigen.

• ...sich die überwiegende Mehrheit (68 Prozent) in der Covid-19-Pandemie von der Politik alleingelassen fühlt. »Dies ist folgenschwer«, so Professorin Schweppe, »...denn pflegende Angehörige können in dieser Krise oft nicht auf tragfähige Entlastungs- und Unterstützungsstrukturen zurückgreifen.« Fast jedem dritten Befragten stehe in dieser Situation keine Person zur Verfügung, mit welcher er über seine Nöte und Sorgen sprechen und welche er um Unterstützung bitten könne.

• ...24 Prozent darüber besorgt sind, die Pflege in Corona-Zeiten nicht mehr zu schaffen. Besonders schwierig sei die Situation für Angehörige von Menschen mit Demenz.

Eine weitere aktuelle Untersuchung (bundesweite Befragung von 1.000 Personen) eines gemeinsamen Forschungsprojekts des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) und der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Veröffentlichung vom Juli 2020), betont, dass etwa 4,7 Millionen pflegende Angehörige einen erheblichen Teil zur Versorgung pflegebedürftiger Menschen in Deutschland beitragen. Die pflegenden Angehörigen seien schon vor der Pandemie physisch und vor allem psychisch teilweise stark belastet gewesen. Während in der Corona-Krise allerdings vor allem die Lage in Kliniken oder Pflegeheimen wahrgenommen werde, drohe die häusliche Pflege übersehen zu werden. Die Autor*innen bestätigen, dass [3]

• ...Angehörige, die einen Menschen mit Demenz versorgen, in der Corona-Situation potenziell besonders belastet sind.

• ...32 Prozent der Befragten konstatieren, die Pflegesituation habe sich angesichts der Pandemie verschlechtert.

• ...sich ein Viertel der pflegenden Angehörigen in dieser Situation mehr oder weniger überfordert fühlen.

• ...24 Prozent besorgt sind, die häusliche Pflege nicht mehr zu schaffen. Dabei hätten Gefühle der Hilflosigkeit in der Pflegesituation bei 29 Prozent der Angehörigen zugenommen.

• ...von 24 Prozent eine Steigerung belastender Konflikte mit der pflegebedürftigen Person beschrieben wird.

• ... 22 Prozent berichten, ihre »Verzweiflungsgefühle« seien mehr geworden.

• ...ein Fünftel darüber berichtet, dass Wut und Ärger in der Pflegesituation gewachsen seien.

Deshalb ist es zu begrüßen, dass mit dem Hinweis darauf, dass mehr als drei Viertel aller Pflegebedürftigen zu Hause gepflegt werden, nun endlich (Anfang August 2020) durch NRW-Gesundheitsminister Laumann ein Vorhaben auf den Weg gebracht wurde, welches die besonderen Herausforderungen pflegender Familien in der Corona-Krise herausarbeiten soll. [4] Dass dies erst jetzt geschieht, verweist darauf, dass die häusliche Pflege sich ohnehin im Schatten der öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit befindet und dass hier aber ein wachsender Unterstützungsbedarf besteht, der die Solidargemeinschaft zum Handeln verpflichtet. Viele bürgerschaftlich Engagierte leisten hier »unbürokratische« Unterstützung – es sind allerdings noch viel zu wenige. Von einer flächendeckenden Verbreitung eines Engagements, das die oben genannten Nöte lindert, ist Deutschland weit entfernt.

Es ist zu wünschen, dass die angekündigte Expertise nicht nur das professionelle System in den Blick nimmt, sondern das bürgerschaftliche Engagement in seiner bisherigen Wirksamkeit und seinen zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten im Sinne eines »Versorgungsmixes« entsprechend berücksichtigt. Hier sei angemerkt, dass bisher der Blick auf das Gesamtsystem der »Sorgearbeit« zu kurz kommt: Dazu gehören nicht nur die Professionellen und bürgerschaftlich Engagierten, sondern auch die pflegenden Verwandten, Freunde und Nachbarn und zentral die Personen mit Unterstützungsbedarf selbst, deren Selbstsorgewille und -fähigkeit Anerkennung und Stärkung verdient.

Dieser Blick auf die aktuelle Lage zeigt: Bürgerschaftliches Engagement im Kontext von Älterwerden und Pflegen wird dringend benötigt – als wichtiger Akteur im »Sorgemix«.

2. Bürgerengagement baut Brücken – aber es soll nicht als »Lückenbüßer« dienen

Bürgerengagement fungiert als Brückenbauer. Lange Zeit wurde mit dem Slogan, Engagierte seien »keine Lückenbüßer«, darauf hingewiesen, dass Bürger*innen nicht als »Ausfallbürgen« für staatliche Leistungen betrachtet werden dürfen. Dieses Anliegen hervorzuheben, erscheint nach wie vor notwendig.

Allerdings sind es auch Bürger*innen, die Lücken im Versorgungssystem aufspüren, um dann Gräben zu überwinden und Brücken zu bauen. Im Kontext von Hilfe und Pflege wird dies systematisch versucht, z.B. indem freiwillige Patientenbegleiter*innen alleinstehende Hochbetagte bei Krankenhausaufenthalten und Arztbesuchen begleiten. Dabei liegt die besondere Stärke des Engagements vor allem in der personellen Kontinuität der engagierten Personen, also auf der Beziehungsebene. Die Nutzenden verstehen das Engagement als Begleitung in Lebensfragen, die im Laufe des Pflegens oder Älterwerdens auftreten. [5] Aus einem aktuellen Bericht des GKV (2020, S. 19) geht hervor, dass ein Drittel der Nutzer*innen von Pflegeberatung in Bezug auf eine bedarfsgerechte kontinuierliche persönliche Beratung ein Verbesserungspotenzial sieht. Die Pflegeberater*innen selbst pflichten dem bei: Sie sehen zu fast 90 Prozent als zentrale Herausforderung »fehlende Angebote von Leistungserbringern« bzw. »deren erschöpfte Kapazitäten« (S. 18). Interessant ist auch, dass 30 Prozent der Nutzer*innen von Pflegeberatung, die einen Erstantrag gestellt haben, sich nicht nur einen, sondern einen weiteren Kontakt gewünscht hätten (S. 17).

Im aktuellen Bericht des GKV Spitzenverbandes zur Pflegeberatung nach §7a Abs.9 SGB XI vom Juni 2020 [6] wird eine weitere »Lücke« benannt: Hier wird konstatiert, dass der Arbeitsumfang der Pflegeberater*innen, was die Netzwerkarbeit betrifft, von ihnen selbst als »eher gering bis mäßig« eingeschätzt wurde: 20 Prozent der Befragten gaben an, dass die Netzwerkarbeit keinen Raum in ihrer Tätigkeit einnehme (S. 10). Nur die eher wenigen Pflegeberater*innen aus Pflegestützpunkten gaben an, dass Netzwerkarbeit »zu ihren Aufgaben« gehöre. Dabei ist gerade ein gut aufgestelltes Netzwerk – zu dem auch Freiwilligeninitiativen gehören – die Grundlage dafür, dass die individuellen Nachfragen und Unterstützungsanliegen nicht ins Leere laufen.

So wird denn auch in dem Bericht des GKV zur Pflegeberatung eine Verbesserung der Vernetzung auf lokaler Ebene als besondere Herausforderung angesehen (S. 22). Hier wird speziell auf die Vernetzung mit den lokalen Akteuren abgehoben, und auf eine dazu notwendige koordinierende Stelle, durch die regelmäßige Netzwerktreffen organisiert werden. Diese Stelle solle niedrigschwellige und unbürokratische Zusammenarbeit fördern und Schnittstellenprobleme an den Sektorengrenzen bearbeitbar machen. Nicht angesprochen werden die dazu notwendigen Strukturen auf Ebene von Kreisen sowie auf Länder- und Bundesebene. Zwar wird das Fehlen von Austauschtreffen in den Regionen konstatiert, in Bezug auf die Länderebene wird aber auf das bestehende föderale System hingewiesen, das den einzelnen Bundesländern bewusst erhebliche Ausgestaltungsmöglichkeiten lasse (S. 23). Zwar kann nicht übersehen werden, dass die Eigenständigkeit der Bundesländer Absprachen notwendig macht, dennoch kann aufgrund der großen Bedeutsamkeit nicht darauf verzichtet werden, im Sinne des angestrebten »Versorgungsmixes« ineinander- und übergreifende Netzwerkstrukturen für das freiwillige Engagement aufzubauen. Damit aber zivilgesellschaftliche Akteure überhaupt als »Partner im Sorgemix« gesehen und ernstgenommen werden, braucht es eine entsprechende politisch gewollte Initiative.

Die Aufgabe des bürgerschaftlichen Engagements beschränkt sich nicht auf individuelle Unterstützungsleistungen und die Vernetzung von Menschen, die Hemmungen haben, die Angebote des Versorgungssystems in Anspruch zu nehmen. Es wirkt – wie am Beispiel des Projektes »Unternehmen Pflegebegleitung« deutlich wird – auch in Unternehmen hinein, kooperiert mit Unternehmensleitungen und Belegschaften und gewinnt zuweilen hier auch Unterstützer und somit finanzielle Förderung aus der Zivilgesellschaft selbst [7].

Bürgerschaftliches Engagement im Kontext von Älterwerden und Pflegen klinkt sich zudem in den öffentlichen Diskurs um eine nachbarschaftliche und gesellschaftliche Solidarität im »Ernstfall Pflegebedarf« ein und versteht sich als »Sprachrohr« für Gruppierungen, die zurückgezogen leben und nicht öffentlich für ihre Rechte eintreten können. [8]

Deshalb gilt: Bürgerschaftliches Engagement übernimmt eine Palette bedeutsamer Aufgaben - es spürt Versorgungslücken auf, schafft Verbindung zur Inanspruchnahme von Versorgungsangeboten, zu Unternehmen und mischt sich auch in den öffentlichen Diskurs zur Verantwortungsübernahme für das Gemeinwohl ein. Aber es ist nicht zum »Nulltarif« zu haben! Hier steht die Politik in der Verantwortung, Rahmenbedingungen zu schaffen und zu erhalten.

3. Begleitungsprofile – verstreut, unkoordiniert, »undercover« und kaum sichtbar

Bürgerengagement im Kontext von Älterwerden und Pflegen ist kaum öffentlich sichtbar – jedenfalls nicht seiner Bedeutsamkeit entsprechend. Es findet sich meist auf lokaler Ebene, oftmals angebunden an Wohlfahrtsverbände und kirchliche Träger oder in selbstorganisierten Initiativen mit eigenem Verein sowie als spontane Initiativen z.B. in Quartiersentwicklungsprozessen. Die im Rahmen der Pflegeversicherung abrufbare Zusatzleistung für »Hilfe im Alltag«, bei der den Helfer*innen, die von einer Pflegeexpertin fachlich begleitet werden, eine Aufwandsentschädigung gezahlt wird, haben das frei verfügbare bürgerschaftliche Engagement, das außerhalb von Regulierungen wirksam ist, im öffentlichen Bewusstsein in den Hintergrund gedrängt. So sehr einerseits die Leistungen einer »Hilfe im Alltag« einzelnen pflegenden Familien zugutekommen, so sehr tragen diese andererseits dazu bei, dass den potenziellen Nutzer*innen unklar ist, welche niedrigschwelligen Hilfsangebote als abrufbare Versorgungsleistung der Pflegekassen und welche als unentgeltliches freiwilliges Engagement in Anspruch genommen werden können.

Zudem besteht vielfach eine Unübersichtlichkeit angesichts der Vielfalt vieler unterschiedlicher Begleitungsprofile, die jeweils eigene, spezielle Anliegen verfolgen (z.B. Sterbebegleitung), sich an unterschiedliche Zielgruppen wenden (z.B. Demenzbegleitung) und ihre Informationen über die unterschiedlichen Träger weitergeben (z.B. die Alzheimer Gesellschaft). Die öffentliche Wahrnehmung des Bürgerengagements im Kontext von Älterwerden und Pflegen wird dadurch erschwert, dass es keine Stellen (z.B. Kompetenzzentren) gibt, an denen die Fäden zusammenlaufen. Zwar gibt es auf Bundesebene das »Netzwerk Pflegebegleitung« als lockeren Zusammenschluss von Organisationen, Fachkräften und Freiwilligen, die das Anliegen der Stärkung häuslicher Pflege teilen [9], hierfür werden aber keinerlei öffentlichen finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt. Dies ist umso unverständlicher, da doch §45c im SGB XI ausdrücklich den Auf- und Ausbau von Strukturen für Pflegebegleitung als zu förderndes Anliegen benennt. Auf den jeweiligen Landesebenen wird das Gesetz unterschiedlich ausgelegt – und so fehlt es in den meisten Bundesländern am politischen Willen, eine Strukturentwicklung finanziell zu fördern bzw. sich an der Strukturentwicklung (zu 50 Prozent) zu beteiligen. Einige wenige Bundesländer – hierzu gehören Bayern, Berlin, Baden-Württemberg und Thüringen – zeigen sich hingegen offen für die bürgerschaftlichen Impulse – auch im Wissen darum, dass die oft beklagte Informationslücke über die Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben in einer »Gesellschaft des langen Lebens« über ein gut aufgestelltes, mit Lernangeboten flankiertes Bürgerengagement auf diese Weise leicht und effektiv zu schließen ist.

So wird deutlich: Es braucht Sichtbarkeit, den Zusammenschluss der unterschiedlichen Begleitungsprofile und Koordinierung – auf allen Ebenen und miteinander vernetzt.

4. Kompetenzentwicklung durch Lernen im Bürgerschaftlichen Engagement – erfolgreiche Formate liegen vor

In den vergangenen 20 Jahren sind unter dem Motto der Förderung von Kompetenzentwicklung – speziell von Älteren und zur Unterstützung für Ältere in schwierigen Lebenssituationen zahlreiche Programme und Projekte auf den Weg gebracht worden. Das Programm des BMFSFJ »Erfahrungswissen für Initiativen« [10] setzte in einer konzertierten Aktion einen Impuls auf Bundes- und Länderebene, die Verantwortlichkeit Älterer für das Gemeinwohl zu stärken und entsprechende Lernprogramme zur Kompetenzentwicklung von seniorTrainer*innen zu entwickeln, anzubieten und zu evaluieren. Auch wurden von einzelnen Bildungsanbietern – z.B. von der Katholischen Familienbildungsstätte in Dülmen – Freiwilligenprofile wie »Seniorenbegleitung« im Kontext von Älterwerden und Pflegen ersonnen und über ein Curriculum zur Qualifizierung von Freiwilligen über Jahre vorangebracht. Beide Ansätze waren konsequent thematisch ausgerichtet und wurden in einem Lern-Modulsystem realisiert (siehe dazu auch das Curriculum der Schlaganfallhelfer*innen [11]). In dem Bundesmodellprojekt »Pflegebegleiter« (2004 – 2008) wurde dann erstmals ein stärker prozessorientierter Lernansatz verfolgt. Nach dem Prinzip der »Partizipativen Curriculumentwicklung« wurde in dem 60 Stunden umfassenden Vorbereitungskurs für Freiwillige, die pflegende Angehörige unterstützen wollten, eine Lernform erprobt, die sich nach den Lerninteressen der Teilnehmenden ausrichtete. [12] Zwar wurden spezielle Kernthemen (in Themenkarten) vorgegeben, dennoch waren es hier im Wesentlichen die Teilnehmenden, die aufgrund ihrer bereits vorhandenen Expertise und ihrer Interessen das Kursgeschehen entscheidend mitbestimmten (»Selbstbestimmtes Lernen«). Diese neue Lernform erwies sich als besonders geeignet im Hinblick auf die Festigung von Haltungen, die im Engagement wegweisend sein sollten, und im Hinblick von Fertigkeiten, die im kollegialen Miteinander eingeübt und in einer fachlich begleiteten Praxiserkundung gefestigt werden konnten.

In den letzten fünf Jahren wurden dann verstärkt digitale Lernformen erprobt – so etwa in dem Teilprojekt »Technikbegleitung« des Forschungsinstituts Geragogik im Rahmen eines umfangreichen BMBF-Forschungs- und Entwicklungsprojektes »QuartiersNETZ«. [13] Auf einer speziell an die Zwecke der Qualifizierung von Freiwilligen angepasste Moodle-Plattform wurden Lernprogramme erarbeitet, die es den Freiwilligen ermöglichten, neben Präsenzveranstaltungen das Gehörte zu vertiefen und sich miteinander in den Initiativen digital auszutauschen. Im Sinne der Vernetzung der für die Versorgung verantwortlichen Akteure wurden in die Technikbegleitung auch ambulante Dienste und Alltagsbetreuer einbezogen. [14] Die Digitalisierung und Technikunterstützung in häuslichen Pflegekontexten führte darüber hinaus zur Entwicklung eines neuen Freiwilligenprofils »RobotBegleitung« und zu einem entsprechenden Curriculum, das derzeit an der Hochschule für Gesundheit in Bochum weiterentwickelt wird (RUBYDemenz [15]).

Die weitere Digitalisierung von Lernprogrammen für Freiwillige steht an – allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich hier das »blended learning« anbietet, d.h. der Wechsel von Präsenz- und Digitalphasen beim Lernen.

Dringend notwendig wäre darüber hinaus die Entwicklung, Erprobung und Evaluation einer Lernplattform für Multiplikatoren, also für diejenigen Fachkräfte (z.B. aus Pflege oder Sozialer Arbeit) oder fachlich ausgewiesenen Freiwilligen (z.B. in der nachberuflichen Lebensphase), die den Auf- und Ausbau von Freiwilligeninitiativen etwa im Rahmen von Quartiersentwicklung voranbringen wollen. Derzeit stößt allerdings das Vorhaben, einen solchen organisierten Know-How-Transfer im Sinne einer Zusatz-Qualifizierung auf Hochschulebene zu implementieren, noch auf Vorbehalte. Dies ist u.a. darauf zurückzuführen, dass Ko-Finanzierungen notwendig sind. So sind z.B. in NRW eine Hochschule und die Pflegekasse zu Investitionen bereit, das Land NRW zeigt sich hingegen sperrig. Auch auf der Bundesebene steht der grundsätzlichen Bereitschaft der Pflegekassen an der Finanzierung solcher Strukturen das Interesse des BMG gegenüber, keine Verantwortung für solche Strukturentwicklungen übernehmen zu wollen. Die saloppe Formulierung, dass das Bürgerengagement im Kontext von Pflege »zwischen allen Stühlen« sitzt, erscheint auch hier passend, handelt es sich hier doch um eine Schnittstelle von BMG und BMFSFJ mit unklaren Zuständigkeiten. Im Prinzip könnte sich auch das erst kürzlich im BMBF eingerichtete Referat »Lebensbegleitendes Lernen, Allgemeine Weiterbildung« für das Lernen im Engagement als zuständig erklären. Hier könnten Absprachen zwischen den einzelnen Ministerien hilfreich und zielführend sein.

Fazit: Kompetentes Bürgerengagement braucht einen organisierten Know-How-Transfer – sowohl für die Begleitungstätigkeit der Freiwilligen als auch die Leitungskräfte, die den Auf- und Ausbau von Bürgerengagement voranbringen möchten.

5. Dringend geboten: Strukturen mit Kompetenzzentren zur Stärkung des Bürgerengagements auf Bundes- und Länderebene sowie regionale Vernetzung

Der Bericht des GKV-Spitzenverbandes zur Wirksamkeit von professioneller Pflegeberatung vom Juli 2020 zeigt eindrücklich, dass sowohl im Bereich der Schaffung von Informationsmöglichkeiten als auch in Bezug auf Vernetzung wesentlicher Handlungsbedarf besteht. Die Rede ist davon, dass es nur sehr selten Vernetzungstreffen zwischen den unterschiedlichen für die Versorgung zuständigen Akteuren gibt. Dass dies für die potenziellen Nutzer*innen zu einer Unübersichtlichkeit der Angebote führt, wird nicht erwähnt. Auch nicht, welche Folgen dies hat, wenn aufgrund dessen Unterstützungsangebote nicht wahrgenommen werden.

6. Handlungserfordernisse: Kompetenzentwicklung im Bürgerengagement – insbesondere als »Chefsache« der Politik

So lässt sich folgern: Die Zeit drängt – die Politik muss handeln – im Zusammenwirken mit allen Akteuren und auf allen Ebenen. Das Bürgerengagement im Kontext von Älterwerden und Pflege braucht hier eine gewichtige Stimme. Dringend notwendig ist der Aufbau von Strukturen für ein qualifiziertes Bürgerengagement im Bereich Älterwerden und Pflegen. In vorderster Linie ist hier die Bundespolitik gefragt, die bisher allerdings auf Vorschläge zu einer langfristig angelegten Engagementförderung im Pflegebereich nur mit einem Hinweis auf die Wirksamkeit professioneller Pflegeberatung kontert.

Die Förderung von qualifiziertem Engagement kann auch nicht nur einzelnen Wohlfahrtsverbänden oder Pflegediensten überlassen werden – diese stehen ohnehin weniger einer zivilgesellschaftlichen, sondern oftmals eher einer Dienstleistungslogik nahe. Um gerade die »freien Kräfte« – auch die der Senior*innen der Babyboomer-Generation – zu stärken, ihr Engagement zu unterstützen und ihnen die Möglichkeit zu geben, noch fehlende Kompetenzen fachlich begleitet zu entwickeln, braucht es Kompetenzzentren, z.B. Hochschulen, die diese Aufgabe übernehmen. Deren besondere Verantwortlichkeit liegt darin, Professionellen und kompetenten, fachlich versierten Freiwilligen in Leitungs- und Fortbildungsfunktionen eine Zusatzqualifizierung anzubieten. Diese soll sie dazu befähigen, die Freiwilligeninitiativen vor Ort aufbauen und fachlich begleiten zu können. Zudem sollen Wege aufgezeigt werden, wie eine Vernetzung der Akteure organisiert und moderiert werden kann. Auch könnte ein Kompetenzzentrum sich im Austausch mit Politik und Ministerien für ein noch ausstehendes Altenhilfegesetz stark machen, von dem Planbarkeit und Finanzierungssicherheit erwartet werden. Ziel auf allen Ebenen sollte es sein, im Verbund mit anderen (im Sinne des »Versorgungs«- oder auch »Sorgemixes«) Menschen in schwierigen Lebenssituationen verlässlich Unterstützung und Informationen zukommen zu lassen, die sie benötigen, verstehen und in ihrem Alltag umsetzen können [16]. Das Anliegen der Schaffung vergleichbarer Verhältnisse ist jedoch ebenso für das Bürgerengagement zu verfolgen: Auch den eigenen Einsatz im »Ehrenamt« muss man sich »leisten können« – angesichts zunehmender Altersarmut stehen Klärungen über die passenden Wege dazu an. Dass dies auf allen Ebenen eine (vernetzte) Qualitätsentwicklung braucht, steht außer Frage.

Sonntagsreden zur Würdigung von Engagement und Ehrenamtlichkeit Einzelner reichen nicht. Es reicht auch nicht, die »Projektitis« zu kritisieren – sind doch neue Ansätze zunächst zu erproben und wissenschaftlich zu evaluieren. Es gilt, zeitnah Ernst zu machen: politische Entscheidungen zu treffen, durch die das kompetente Bürgerengagement als eine »Säule der gesellschaftlichen Weiterentwicklung« nicht nur benannt, sondern auch dauerhaft und verlässlich finanziert wird. Das Bürgerengagement ist erprobt und vorhanden – gesetzliche Rahmenbedingungen würden grundsätzlich eine flächendeckende Verstetigung ermöglichen – allein der politische Wille ist nicht erkennbar. Die dazu aufzuwendenden Mittel sind überschaubar – möglicherweise wären Forderungen in Millionen- oder Milliardenhöhe leichter einzulösen. Aber: Die akute Nachfrage und Not ist groß – es besteht akuter Handlungsbedarf. Insofern ist es angezeigt, eine strukturelle Wende einzufordern: Jetzt!


Endnoten

  1. https://www.bmfsfj.de/blob/113702/53d7fdc57ed97e4124fffec0ef5562a1/vierter-freiwilligensurvey-monitor-data.pdf S. 30; zum Vergleich: im Engagementbereich „Sport und Bewegung“ liegt die Engagementquote bei 16,3 Prozent – kritisch anzumerken ist hier wohl, dass der FWS insgesamt zu hohe Zahlen ausweist

  2. Studie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz – Presseinformation vom 6.08.2020

  3. https://www.rehacare.de/de/News/Neues_Virus,_zusätzliche_Last_Pflegende_Angehörige_in_der_Corona-Krise

  4. https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/minister-laumann-wir-wollen-der-corona-pandemie-die-haeusliche-pflege-staerken

  5. Bubolz-Lutz, Elisabeth & Steinfort-Diedenhofen, Julia (2018): Freiwilliges Engagement als Lernfeld im Alter – ein geragogisches Handlungsfeld. In: Schramek, Renate et al.: Alter(n) – Lernen – Bildung. Ein Handbuch. Stuttgart, S.227 - 236

  6. GKV Spitzenverband (Juni 2020): Bericht der GKV-Spitzenverbandes nach §7a Abs.9 SGB XI, Berlin

  7. www.pflegebegleiter.de mit dem Hinweis auf eine private Stiftung in NRW

  8. Bubolz-Lutz, Elisabeth et al. (2018): Pflegebegleitung. Handbuch zum Aufbau von Initiativen zur Stärkung pflegender Angehöriger, Lengerich, S. 44 ff.

  9. www.pflegebegleiter.de

  10. https://www.isab-institut.de/front_content.

  11. Bilda, Kerstin et al. (2021): Geschulte Schlaganfallhelfer*innen – Ein partnerschaftliches Modell für die wohnortnahe Versorgung. In: ZGGG, Heft 1 (in Vorbereitung)

  12. Bubolz-Lutz, Elisabeth & Kricheldorff, Cornelia (2011): Pflegebegleiter. Schriftenreihe Modellprogramm zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, GKV, Bd. 6

  13. Bubolz-Lutz, Elisabeth & Stiel, Janina (2018): Technikbegleitung. Dortmund

  14. Bubolz-Lutz, Elisabeth/ Lukas, Michaela & Vogt, Nicola (2018): Zugangswege zu Personen in spezifischen Lebenssituationen. In: Heite, Elisabeth & Rüßler, Harald (Hrsg.): Quartiersnetzwerke mit älteren Menschen entwickeln, Dortmund, Handbuch 3 der Reihe: Ältere als (Ko-)Produzenten von Quartiersnetzwerken – Impulse aus dem Projekt QuartiersNETZ, S. 62 – 65

  15. Schramek, Renate, Reuter, Verena & Kuhlmann, Andrea (2018): Lernen und Teilhabeförderung im Rahmen partizipativer Technikentwicklung: Forschungsansatz und -methode im Projekt „OurPuppet“. In: Schramek, Renate et al.: Alter(n) – Lernen – Bildung. Ein Handbuch. Stuttgart, S. 98 - 112

  16. Siehe dazu die Expertise des ZQP zur Pflegeberatung aus dem Jahr 2015: https://www.zqp.de/bevoelkerungssicht-pflegeberatung/ - hier fühlten sich nur ein Drittel der Befragten ausreichend informiert; für 63 Prozent wäre es wichtig, individuelle Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt zu bekommen.

Beitrag im Newsletter Nr. 19 vom 24.9.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

Prof. Dr. phil. Elisabeth Bubolz-Lutz vertritt an der Universität Duisburg-Essen im Rahmen der Bildungswissenschaftlichen Fakultät das Themenfeld »Altern und Lernen/ Geragogik«. Als Direktorin des Forschungsinstitut Geragogik hat sie etliche Freiwilligenprofile mit entwickelt, erprobt und evaluiert. Als wissenschaftliche Begleitung von Netzwerken wie Pflegebegleitung und Patientenbegleitung setzt sie sich für die Entwicklung von Strukturen zum Know-How-Transfer an Hochschulen und für flächendeckende Netzwerkentwicklungen für freiwilliges Engagement ein. Sie ist (berufenes) Mitglied des Fachbeirates »Digitalisierung und Bildung für ältere Menschen« beim BMFSFJ.


Redaktion

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