Inhalt
#Starke Frauen und Mädchen mit Behinderung und chronischer Erkrankung – »Nichts über uns ohne uns«
Frauen mit Behinderung sind häufiger armutsgefährdet und erfahren mehr Gewalt
Geschlechtergerechtigkeit ist unabdingbar für die Zukunft – auch im Engagement
Frauen und ihre Rechte für ein selbstbestimmtes Leben
Schlussbetrachtung
Literatur
Autorin
Redaktion
#Starke Frauen und Mädchen mit Behinderung und chronischer Erkrankung – »Nichts über uns ohne uns«
Der Leitgedanke der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK): »Nichts über uns ohne uns« ist der Ausgangspunkt für den folgenden Beitrag zum Thema: Eine inklusive Zukunft für mehr Selbstbestimmung und Gleichberechtigung.
Noch immer ist zu konstatieren, dass dem Beteiligungs- und Teilhabegebot im Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) für Frauen und Mädchen mit chronischer Erkrankung und Behinderung nicht genügend nachgekommen wird. Sei es bei der Ausgestaltung und Mitwirkung oder aber bei ihrer Vertretung von Interessen und Bedarfen beispielsweise im Engagementbereich.
Artikel 29 UN-BRK: Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben
»Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien müssen geeignet, barrierefrei und leicht verständlich sein, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt ihr Wahlrecht geltend machen können.« (zitiert nach Die UN-Behindertenrechtskonvention: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen; Die amtliche, gemeinsame Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein, 2017)
Obwohl die Zahl von Frauen und Mädchen mit Behinderung und chronischer Erkrankung groß ist, ist für sie ein gleichberechtigtes aktives Mitgestalten in den Verantwortungs- und Handlungsfeldern im Engagementbereich als auch in unserer Gesellschaft im Jahr 2021 nicht selbstverständlich. Vielfach wird noch immer davon ausgegangen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderung kein Interesse an abstrakten Zusammenhängen und Entscheidungsprozessen hätten (Eiermann 2000). So ist es für viele Frauen und Mädchen mit Behinderung und chronischer Erkrankung schwierig, ihre individuellen Angelegenheiten aktiv mitzugestalten. Oder die eigenen Bedürfnisse in der Lebensgestaltung im Engagement partizipativ und gleichberechtigt in Verantwortungs- und Handlungsfelder einzubringen.
Frauen mit Behinderung sind häufiger armutsgefährdet und erfahren mehr Gewalt
So verfügen beispielsweise 26 Prozent der Frauen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung über keinen berufsqualifizierenden Abschluss. Sogar mehr als die Hälfte der Frauen sind nicht erwerbstätig und dadurch besonders armutsgefährdet. Weiterhin fehlt es an barrierefrei zugänglichen Versorgungs- und Präventionsangeboten im Bereich der Gesundheitsversorgung – besonders in ländlichen Regionen. Der Wunsch nach Familie erfüllt sich kaum, 38 Prozent der Frauen leben allein und 38 Prozent in einer Partnerschaft ohne Kinder. Besondere Aufmerksamkeit bedarf die Tatsache, dass Frauen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung zwei- bis dreimal häufiger Gewalt erfahren als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt (vgl. BFSFJ 2011).
Darüber hinaus werden Frauen und Mädchen durch die noch oft vertretende defizitorientierte Sichtweise von Behinderung viel zu oft entmutigt, bevormundet sowie aus dem handlungsrelevanten Verbandsleben ausgegrenzt (vgl. Kofahl, Seidel, Weber, Werner, Nickel 2016). Eigene Entscheidungen werden ihnen nicht zugetraut, aber auch nicht zugestanden. Auch wird häufig für sie und über sie entschieden (vgl. Hermes 2010).
Jene beispielhafte Auswahl zeigen die Defizite bei den Themen Teilhabe und Selbstvertretung für Frauen und Mädchen unverkennbar auf:
• Politik, Unternehmen, Medien und Kultur: Stimmen (Bedarfe und Interessen) von Frauen mit Behinderung und chronischer Erkrankung sind in der (digitalen) Öffentlichkeit unterrepräsentiert oder gar nicht vorhanden.
• Soziale Medien: Obwohl Frauen die Sozialen Medien aktiver nutzen als Männer, sind sie weniger sichtbar und tragen weniger zur Generierung von Inhalten im Netz bei.
• Öffentliche Diskurse: Das Beispiel der #metoo - Debatte. Sie ist eine der öffentlichkeitswirksamsten Debatten über die Gewalt an Frauen. Aber Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung sind kaum präsent in der Debatte, obwohl sie bis zu dreimal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen sind als Frauen ohne Behinderung.
Geschlechtergerechtigkeit ist unabdingbar für die Zukunft – auch im Engagement
Gleichberechtigung der Geschlechter ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine zukunftsorientierte inhaltliche und strukturelle Entwicklung von Institutionen, Organisationen oder Verbänden. Auch im Engagement. Folglich muss die Sensibilisierung für geschlechterspezifische Gegebenheiten sowie für Vielfalt eine grundlegende institutionelle sowie gesellschaftliche Aufgabe werden. Fragen sowohl nach Hierarchien, Privilegien und Benachteiligung müssen zum kontinuierlichen Diskussionsgegenstand werden. Die Wege, die Verbände oder Organisationen hierbei einschlagen, sind sehr vielfältig und unterschiedlich und nicht zuletzt davon geprägt, ob es eine verbandliche Verpflichtung gibt.
Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Gesellschaft mit all ihren Institutionen, Prozessen und Strukturen nicht geschlechtsneutral ist. Im Alltag bedeutet dies, dass unser Handeln Frauen und Männer unterschiedlich beteiligt und in dessen Folge Frauen und Männer unterschiedlich von den Auswirkungen betroffen sind.
Die explizite Hervorhebung der Gleichberechtigung sowie Chancengleichheit zwischen Frauen und Männern ist deswegen auch gegenwärtig noch notwendig, weil das Mitdenken der Auswirkungen aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit und der Beziehungen zwischen den Geschlechtern keineswegs selbstverständlich ist. Hier gilt es explizit die Aufmerksamkeit für Frauen und Mädchen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung zu schärfen, da sie in fast allen Lebensbereichen kaum wahrgenommen werden oder sie erleben viel zu oft aufgrund ihrer Behinderung und ihres Geschlechts mehrdimensionale Diskriminierungen sowie Benachteiligungen. Zusätzlich werden sie in unserer Gesellschaft jeden Tag mit Rollenerwartungen und Rollenzuweisungen konfrontiert, die ein selbstbestimmtes Leben einschränken. Durch die chronische Erkrankung oder Behinderung kommt oftmals eine Einengung oder Benachteiligung hinzu. Im wissenschaftlichen Diskurs wird diese Verflechtung bzw. Intersektionalität auch als mehrdimensionale Diskriminierung bezeichnet. Gerade in den Bereichen Arbeitsmarkt und berufliche Bildung, als Mutter oder als Opfer von Gewalt und Missbrauch sind Mädchen und Frauen mit Behinderungen besonders benachteiligt. Die UN-Behindertenrechtskonvention erkennt erstmals jene mehrfache Diskriminierung von Frauen und Mädchen in einem eigenen Artikel an:
Artikel 6 UN-BRK: Frauen mit Behinderungen
»Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und der Stärkung der Autonomie der Frauen, um zu garantieren, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können.« (zitiert nach Die UN-Behindertenrechtskonvention: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen; Die amtliche, gemeinsame Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein, 2017)
Frauen und ihre Rechte für ein selbstbestimmtes Leben
Dieser vertraglich festgelegten Verpflichtung im Alltag und in der Handlungspraxis zu folgen bedeutet, dass Frauen mit Behinderungen und chronischer Erkrankung ihre Rechte gleichberechtigt mit anderen ausüben können.
Voraussetzung hierfür ist ein Verständnis, welches Frauen und Mädchen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung zuallererst als Frauen und Mädchen akzeptiert, die ihren eigenen Blick auf die Welt, auf ihre Lebensrealitäten und auf das, was sie für ein selbstbestimmtes Leben benötigen und wünschen, haben. Und zum anderen, dass Frauen und Mädchen ihre Rechte kennen, um mitgestalten und mitbestimmen zu können. Für ein selbstbestimmtes Leben ist es wichtig, seine Rechte zu kennen. Denn erst, wenn wir unsere Rechte kennen, können wir uns dafür einsetzen.
Frauen und Mädchen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung:
• haben das Recht so zu sein, wie sie sind:
- Niemand darf ihnen etwas verbieten, nur, weil sie Frauen oder Mädchen sind. Sie möchten als Mädchen und Frauen gesehen werden.
• haben das Recht, selbst zu bestimmen, wie sie leben wollen:
- Sie können selbstbewusst und selbstständig entscheiden, was ihnen im Leben wichtig ist, wen sie lieben möchten und ob sie Kinder bekommen möchten.
• haben das Recht, anders zu sein:
- Ihre Bedürfnisse, Fähigkeiten und Interessen müssen anerkannt werden.
• haben das Recht, über ihren Körper zu bestimmen:
- Sie dürfen selbst entscheiden, was sie an sich schön und stark finden. Sie brauchen eine gute medizinische und therapeutische Beratung, Versorgung sowie Begleitung.
• haben das Recht, ernst genommen zu werden:
- Sie haben das Recht, ohne Barrieren zu lernen (Schule/Beruf) und ohne Barrieren mitzuentscheiden beim Sport, in der Freizeit und in der Politik wie alle anderen Menschen in der Gesellschaft auch.
• haben das Recht, gewaltfrei zu leben:
- Niemand darf sie abwerten, ihnen wehtun oder zu etwas zwingen, dass sie nicht wollen.
• haben das Recht auf Gleichberechtigung:
- Sie haben das Recht auf gleiche Möglichkeiten im Beruf und gleichen Lohn.
• haben das Recht auf Unterstützung bei Diskriminierung und Gewalterfahrung:
- Sie haben das Recht auf Schutz und Unterstützung vor Benachteiligung, Ungerechtigkeit und Gewalt.
Schlussbetrachtung
Wenn wir über Mädchen- und Frauenrechte und ihre Möglichkeiten zu Teilhabe und Selbstbestimmung sprechen, geht es um das Miteinander in unserer Gesellschaft und im Engagement, um den gegenseitigen Respekt und der gegenseitigen Wertschätzung. Wir sollten täglich dafür eintreten, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben und nicht diskriminiert werden, ungeachtet ihrer Religion, ihres Geschlechts, ihres Aussehens oder wegen ihrer Behinderung. Wir haben die Möglichkeit im Engagement Gleichberechtigung, Vielfalt und Toleranz zu leben.
Literatur
• Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen (2017): Die UN-Behindertenrechtskonvention: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen; Die amtliche, gemeinsame Übersetzung von Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein, Bonn
• BFSFJ (2011): Kurzfassung »Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland«: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/lebenssituation-und-belastungen-von-frauen-mit-beeintraechtigungen-und-behinderungen-in-deutschland/80576
• Deutsches Institut für Menschenrechte (2017): Rechte von Frauen und Mädchen mit Behinderungen, Information Nr. 10, Juni 2017, Berlin
• Eiermann, Nicole (2000): Live Leben und Interessen vertreten – Frauen mit Behinderung Lebenssituation, Bedarfslagen und Interessenvertretung von Frauen mit Körper- und Sinnesbehinderungen, Berlin
• Hermes, Gisela (2010): Förderung der Selbstbestimmung durch Empowerment: Erfahrungen aus der Praxis, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »Behinderung ohne Behinderte?! Aspekte und Perspektiven des Disability Studies«, Universität Hamburg, 12. Januar 2010
• Kofahl, Christopher/Seidel, Gabriele/Weber, Jan/Werner, Silke, Nickel Stefan (2016): Strukturen und Prozesse bei Selbsthilfegruppen und -organisationen; In: Kofahl, Christopher/ Schulz-Nieswandt, Frank/Dierks, Marie-Luise (Hg.): Selbsthilfe und Selbsthilfe-unterstützung in Deutschland (SHILD-Studie), Berlin
Beitrag im Newsletter Nr. 19 vom 23.9.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.
Autorin
Nicole Kautz ist Projektleiterin und Koordinatorin für geschlechtssensible Selbsthilfearbeit bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG SELBSTHILFE) und Themenpatin des BBE-Themenfelds Gendergerechtigkeit.
Kontakt: nicole.kautz@bag-selbsthilfe.de
Redaktion
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