Beitrag im Newsletter Nr. 17 vom 26.8.2021

sterben & leben

Friederike Krippner

Inhalt

Nachdenken über das Leben von seinem Ende her
Der Tod ist »Woanders«
Wir verlieren den Tod buchstäblich aus den Augen – und damit auch das Leben.
Kein Mensch sollte alleine sterben müssen
Autorin
Redaktion

Nachdenken über das Leben von seinem Ende her

Es gibt einige Bücher über den Tod, manche auch von Menschen, die selbst in den letzten Monaten ihres Lebens geschrieben haben oder interviewt wurden. Berührend sind sie fast alle. Eines der eindrücklichsten solcher autobiographischer Dokumente von Sterbenden ist knapp 40 Jahre alt: die 1984 erschienenen »Diktate über Sterben & Tod« des Juristen Peter Noll. Der aus einem Pfarrhaus stammende Noll, ein bekannter Professor für Strafrecht und enger Freund des Schriftstellers Max Frisch, bekam Ende 1981 im Alter von 55 Jahren die Diagnose Blasenkrebs. Eine möglicherweise lebensverlängernde Operation lehnte er ab. Er fürchtete die physischen Folgen des Eingriffs – den Katheter, die drohende Impotenz – und die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Krebs trotz allem zurückkommen würde. Die vage Hoffnung auf Verlängerung der Lebenserwartung durch eine drastische Operation mit ungewissem Ausgang entsprach nicht seinen Vorstellungen von einem guten Leben und Sterben. Er wollte seine verbleibende Lebenszeit bewusst nutzen. In der Eindeutigkeit der Diagnose, in der medizinischen Gewissheit, dass ihm nur noch sehr wenig Zeit blieb, sah er die Chance, dem Tod sehenden Auges entgegenzutreten.

Und das tat er. Noll beendete seine Arbeit an der Universität. Zwischen Diagnose und Tod lagen gut 10 Monate. In ihnen fuhr er Ski in den Schweizer Alpen, ging spazieren, aß gut und traf enge Freunde und Familie. Vor allem aber dachte er schreibend nach. Dabei kam eine Art Tagebuch des Sterbens heraus. Der letzte Eintrag datiert auf den 30. September 1982. Am 9. Oktober starb Peter Noll. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin wurde das Manuskript posthum veröffentlicht, begleitet von Max Frischs Totenrede.

In dem so entstandenen Buch lässt der nüchterne Noll uns in schlanker Prosa an seinen Gedanken teilhaben. Ihn bewegt das Sterben; die physischen und psychischen Prozesse; klar beschreibt er die stärker werdenden Schmerzen, die Gemütsschwankungen; er reflektiert juristisch wie philosophisch die Möglichkeit des Freitods; er rechnet aber auch bisweilen schlecht gelaunt mit der Jurisprudenz ab; und er denkt über sein Verhältnis zu Gott nach. Die »Diktate« sind eine Reflexion über das Leben von seinem Ende her. Diese Denkbewegung des Buches ist programmatisch zu verstehen. Das Leben, es erscheint banal ohne den Tod. Es gibt dazu eine eindrückliche Textstelle, in der Noll überlegt, was bei seiner Beerdigung gesagt werden solle:

»Ich habe mehrere Lebensläufe, verschiedene, die nicht miteinander übereinstimmen, bis heute nicht. Es gibt einen Leistungslebenslauf – das ist derjenige, der normalerweise vorgewiesen wird. Es gibt einen Liebeslebenslauf, einen Sexlebenslauf, einen Trägheitslebenslauf, einen Frustrationslebenslauf. Einen Lebenslauf der Niederlagen und der Pyrrhussiege. Insgesamt war mein Lebenslauf langsam und gewunden – trotz dem gegenteiligen Eindruck, den man von meiner juristischen Schreiberei haben kann. Erst jetzt ist er schneller geworden und linearer, abgesehen von kleineren Windungen, die ich mir nicht mehr abgewöhnen kann. Welche Daten ich auch immer auswähle, es wird eine irreführende Darstellung werden.

Die Gedanken über Sterben und Tod sind da schon wesentlich klarer. Ich stelle mir eine ganz kurze Predigt vor, in der ich das Publikum – eine Trauergemeinde ist keine Gemeinde – mit dem einzigen konfrontiere, was für jeden einzelnen mit Sicherheit feststeht: mit seinem Ende.« (Peter Noll: Diktate über Sterben & Tod, S. 114)

Das Leben ist so ambivalent und vielschichtig, dass seine Darstellung – und folglich auch eine Bilanz – eigentlich unmöglich ist. Erst der Tod und das Sterben bringen ein wenig Klarheit, so empfindet es Noll.

Der Tod ist »Woanders«

Peter Nolls »Diktate« sind ein gut 250 Seiten langes Bestreben, uns, den (noch) Lebenden, ein Nachdenken über das Existentielle unseres Daseins abzuringen.

Denn obgleich er alle ereilt: Der Tod scheint doch meist weit weg. Das ist eine so häufige Feststellung, dass sie ein wenig banal klingt. Aber sie ist darum nicht weniger wahr. Wir haben den Tod aus unserem Leben verbannt. Das Mehrgenerationenhaus, in dem einstmals geboren und gestorben wurde, hat schon seit Jahrzehnten ausgedient. Eine Kehrseite des medizinischen und industriellen Fortschritts ist, dass nicht mehr mitten unter uns gestorben wird, sondern meist an einem Ort des »Woanders«. Woanders, das ist im Krankenhaus, in einem Pflegeheim, manchmal auch zuhause, dann aber in aller Regel abgeschirmt von dem, was wir als normales Leben empfinden. Der Tod hat im streng getakteten Leben zwischen Berufstätigkeit, Familie, Freizeitaktivitäten und anderen Verpflichtungen keinen rechten Ort.

Wir verlieren den Tod buchstäblich aus den Augen – und damit auch das Leben.

Weitere Indizien dafür, dass wir den Tod in ein »Woanders« wegorganisiert haben, sind die schwindende Praxis der Aufbahrung von Menschen und die gängige Diskussion, ob und wenn ja, ab welchem Alter, Kinder bei einer Beerdigung dabei sein sollten. Er habe, so stellte der Journalist Tobias Haberl kürzlich im Süddeutsche Zeitung Magazin fest, noch keinen Toten gesehen. Haberl ist immerhin 45 Jahre alt. Aber er ist mit diesem fehlenden Erfahrungshorizont in der Mitte des Lebens sicher keine Ausnahme. Der Journalist plädiert dafür, diesen Umstand allgemein zu ändern. Ihm schwebt ein »obligatorisches Angebot, den Tod kennenzulernen« vor (SZ-Magazin, 30.7.2021). Firmen könnten ihre Mitarbeitenden freistellen, Universitäten ihre Studierende, mit dem Ziel, dass alle einen sterbenden Menschen begleiten könnten oder wenigstens in einem Bestattungsunternehmen hospitieren. Haberls Essay, den er als Gedankenexperiment verstanden wissen will, schlägt damit in die gleiche Kerbe wie Peter Nolls »Diktate«: Der Tod geht die Lebenden an.

Aber es geht natürlich nicht nur um die Lebenden. Ganz sicher geht es mindestens ebenso um die Sterbenden. Man könnte meinen, die globale Pandemie, die unser Leben nun seit über anderthalb Jahren bestimmt, habe Sterbende und Tote näher ans uns herangeholt: die Bilder der gestapelten Särge in Italien, die Nachrichten von Massenverbrennungen der Toten in Indien, die Fotos von Tablets in Krankenhäuser, aufgestellt mit dem einzigen Zweck, dass Sterbende und ihre Angehörige einander ein letztes Mal anblicken konnten. Es gab vom ganzen Globus Interviews mit völlig erschöpften Pflegenden, mit Ärztinnen und Ärzten, die in der Pandemie trotz totaler Überlastung bei den Sterbenden blieben, weil die Angehörigen nicht zu ihnen durften. Für eine Bilanz, ob diese Bilder und Nachrichten unser Verhältnis zum Tod tatsächlich nachhaltig verändert haben, ist es noch zu früh. Der Verdacht liegt nahe, dass die Sehnsucht nach einem »back to normal« zu groß sein dürfte.

Kein Mensch sollte alleine sterben müssen

Was man aber wohl doch sagen kann: Das gesellschaftliche Bewusstsein dafür, dass Menschen am Ende ihres Lebens der intensiven Begleitung bedürfen, dass Sterbende schlicht nicht allein gelassen werden dürfen, dieses Bewusstsein ist doch gewachsen. Corona wirkt hier, wie so oft, als Brennglas für Probleme, die es schon vorher gab. Auch schon vor der Pandemie sind Menschen mitten unter uns, hier in Deutschland, alleine gestorben. Sie waren allein, weil es keine Angehörigen gab oder weil diese weit weg waren; weil die Menschen schon vorher einsam waren; weil in dem Moment schlicht niemand am Krankenhausbett saß.

Es gibt heute eine große Aufmerksamkeit für den Anfang des Lebens: für die Geburt und unsere ersten Wochen und Monate im Leben. Das Neugeborene wie auch seine Eltern sind im Blick. Jede krankenversicherte Frau in Deutschland hat ein Recht auf eine Hebamme. (Dass dieses Recht aufgrund der ökonomischen Situation frei arbeitender Hebammen schon jetzt manchmal ad absurdum geführt wird, steht auf einem anderen Blatt). Es gibt Unternehmen, die Mahlzeiten für das Wochenbett anbieten, Kurse zur Vor- und Nachbereitung der Geburt, es gibt eine große Diskussion darüber, wie die ersten Wochen und Monate auf dieser Erde optimal und möglichst stressfrei zu gestalten seien. Mag auch nicht jede Ausbuchtung dieses Diskurses wünschenswert sein, so bleibt doch ein Eindruck: Eine ähnlich große Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs für das Ende des Lebens, das zweite Ereignis, das uns zweifelsohne alle betrifft, sucht man vergeblich.

Dabei wäre genau diese Aufmerksamkeit so wünschenswert: Denn natürlich gibt es sie, die zahlreichen Haupt- und Ehrenamtlichen, die in der Sterbebegleitung arbeiten und sich engagieren. Ärztinnen, Pfleger, Palliativmediziner, Psychiaterinnen, Seelsorgende und viele ehrenamtlichen Sterbebegleiterinnen sind da, am Ende des Lebens. Sehr häufig pflegen Angehörige bis zum Schluss. Sehr häufig sind das Frauen, die dafür in Teilzeit gehen oder gleich ganz auf ihren Beruf verzichten. Unser Ziel muss es sein, all diesen Menschen, die sich beruflich oder ehrenamtlich für Sterbende und ihre Angehörigen engagieren die gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit zu schenken, die es braucht, um gute Rahmenbedingungen für ihre Arbeit zu schaffen. Aufmerksamkeit braucht es aber auch, damit diese Arbeit, diese menschliche Zuwendung nicht im Abseits geschieht, sondern selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft wird.

Kein Mensch sollte alleine sterben müssen. Und wir, die wir noch leben, tragen dafür die Verantwortung.

Peter Noll, der Schweizer Jurist, beklagt in seinen »Diktaten« immer wieder, dass alle ihn nochmal sehen wollten. Und doch gibt er immer wieder zu, dass ihm die Aufmerksamkeit auch gut tut. Am Ende wollte Noll dann nur noch den engsten Kreis um sich haben. Ungefähr 6 Wochen vor seinem Tod bat er seine Tochter Rebekka, von einer Reise zurückzukehren. Das war eine für ihren so unabhängigen Vater ungewöhnliche Bitte, wie sie in ihren Erinnerungen an Nolls letzte Tage schreibt. Sie brach die Reise ab, fuhr zu ihrem Vater und blieb bis zum Schluss. Das war wichtig für den Vater – und für sie.


Beitrag im Newsletter Nr. 17 vom 26.8.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

Dr. Friederike Krippner ist Literaturwissenschaftlerin und leitet seit einem Jahr die Evangelische Akademie zu Berlin. Dort erschien zwischen Ostern und Pfingsten der Blog »Am Ende: Das Leben!« zum Thema Tod und Sterben.

Kontakt: krippner@eaberlin.de


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