Beitrag im Newsletter Nr. 16 vom 11.8.2022

Moderne Engagementpolitik in 11 Thesen

Thomas Röbke

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Moderne Engagementpolitik in 11 Thesen
Autor
Redaktion

Beitrag auf der Tagung »Die Zukunft der Zivilgesellschaft« der Evangelischen Akademie Tutzing und des Wissenschaftszentrums Berlin am 4. und 5. Juli 2022 in der Evangelischen Akademie Tutzing.

Von Engagementpolitik reden wir etwa seit den 2000er Jahren, als mit der Enquetekommission zur Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements, der Gründung des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement (BBE) und der Einsetzung des Unterausschusses für Bürgerschaftliches Engagement im Deutschen Bundestag das Bürgerschaftliche Engagement als Querschnitts- und politische Gestaltungsaufgabe fachlich profiliert wurde. Vorher gab es Ansätze von Engagementpolitik, aber doch meist spartenbezogen, z.B. als Sportpolitik. Bis heute haben sich bei engagementpolitischen Akteurinnen und Akteuren gemeinsame Überzeugungen herauskristallisiert, die in den folgenden in 11 Thesen skizziert werden sollen. Das heißt nicht, dass sie sich schon in den entscheidenden politischen Gremien Gehör verschafft, geschweige denn durchgesetzt hätten. Es gibt eine ausformulierte Engagementpolitik, aber sie ist (noch) politisch randständig. (Siehe hierzu detaillierter: Thomas Röbke (2021): Der Humus der Gesellschaft. Über bürgerschaftliches Engagement und die Bedingungen, es gut wachsen zu lassen, Wiesbaden: VS Springer)

1. Es gab und gibt Engagementpolitik, auch wenn sie nicht bewusst betrieben wird, z.B. als eingespielte Routine der Mittelverteilung. Der größte Ressourcenanteil geht in Deutschland in steuerliche Erleichterungen (Übungsleiterpauschale, Ehrenamtspauschale), danach kommen die Freiwilligendienste. Die meisten Ressourcen werden für eine sehr kleine Gruppe von Engagierten aufgewendet. Ein weiteres Beispiel ist die starke Stellung der Wohlfahrtsverbände, obwohl das Bürgerschaftliche Engagement in diesen Organisationen seit Jahrzehnten stark rückläufig ist.

2. Die gegenwärtige Lage der real existierenden Engagementpolitik ist vor allem eine Schieflage. Sie bildet nicht die Wirklichkeit ab. Heute ist z.B. nur die Hälfte der Vereine in Verbänden organisiert. Das informelle Engagement ohne juristische Form nimmt immer mehr zu. Diese Entwicklungen spiegeln sich in der derzeitigen Realität der engagementpolitischen Unterstützung nicht angemessen wider.

3. Leitvorstellung der Engagementpolitik ist: Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft bilden einen intermediären Sektor, der sich von Wirtschaft, Staat und Privatsphäre abgrenzt, aber zugleich die verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren verbindet, und als Öffentlichkeit ins gemeinsame Gespräch bringt. Zivilgesellschaft und Bürgerschaftliches Engagement sind ihrem Wesen nach inklusiv und sorgen für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie bauen Brücken zwischen sozialen Schichten, Milieus und Kulturen etc. Zugleich muss die Gefahr im Auge behalten werden, dass Zivilgesellschaft exkludierend wirken kann (Soziales Kapital ist auch ein Machtinstrument, wie Pierre Bourdieu betont hat). Die sozialen Unterschiede und Bildungsdifferenzen im Bereich des Bürgerschaftlichen Engagements müssen deutlich mehr als bisher in der Engagementpolitik Beachtung finden.

4. Die grundsätzliche inklusive Funktion von Bürgerschaftlichem Engagement und Zivilgesellschaft verändert sich in den Formen und Formaten rasant, insbesondere in den letzten Jahrzehnten. Sie ist in ständiger Transformation begriffen. Heute sind nicht mehr die großen korporativen Vereinigungen wie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften oder Wohlfahrtsverbände alleine tonangebend, sondern eine Vielfalt von Strukturen. Zugleich wandeln sich die Formen des Engagements: Zeitlich begrenztes, projektförmiges Engagement wird verbindlicherem Engagement, etwa in gewählten Ehrenämtern, vorgezogen. Digitalisierung ist auch im Bürgerschaftlichen Engagement auf dem Vormarsch. Diese Transformationsprozesse müssen durch Engagementpolitik klug begleitet werden.

5. Bürgerschaftliches Engagement ist als eigenständige, unentgeltliche und freiwillige Tätigkeitsform gegenüber der Erwerbsarbeit zu profilieren. Übergänge von Freiwilligem Engagement als »Einstieg« in Erwerbsarbeit, Social-Entrepreneurship, Gemeinwohlunternehmertum sind nicht ausgeschlossen und klug zu gestalten. Zeitpolitik ist in einer von Erwerbsarbeit dominierten Gesellschaft notwendig, um genügend Entfaltungsmöglichkeiten für Bürgerschaftliches Engagement bereitzustellen. Zudem ist der Wert des Bürgerschaftlichen Engagement im Bildungsprozess und als wesentlicher Teil von Bildungslandschaften stärker hervorzuheben und zu fördern.

6. Schnittstellen zwischen Staat und Zivilgesellschaft sind sorgfältig zu gestalten im Sinne der Bewahrung des Eigensinns und einer Vermeidung von Instrumentalisierungen – Ganz im Sinne des Böckenfördeschen Diktums, wonach der demokratische Staat von Voraussetzungen des Engagements der Bürgerinnen und Bürger lebt, die er selbst nicht direktiv anweisen oder erzeugen kann. Staatliches Handeln und staatliche Institutionen können bürgerschaftliche Infrastrukturen nicht kompensieren oder gar ersetzen. Sie sollen sie unterstützen und für gute Rahmenbedingungen sorgen. Hierzu gehört auch die stetige Anstrengung, durch Entbürokratisierung die Freiwilligen zu entlasten, damit sie sich ganz auf ihre wichtige Tätigkeit konzentrieren können.

7. Engagementpolitik setzt an den unmittelbaren Lebenswelten der Menschen an. Sie ist subsidiär, auch im Sinne einer partizipativen Ausrichtung. Es geht nicht nur ums Mitmachen, sondern auch ums Mitgestalten. Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit zu ermöglichen und auszubauen, steht im Fokus der Engagementpolitik.

8. Engagementpolitik ist Kulturpolitik. Sie muss der Freiheit des Bürgerschaftlichen Engagements Raum geben und darf diese nicht als Bedrohung, sondern als Kreativitätspotenzial begreifen – Natürlich im Rahmen der demokratischen Grundordnung. Ihre »Steuerung« ist indirekt und zurückhaltend: Sie bereitet die Bühne, hat aber keine Weisungsbefugnis. Und sie muss aushalten können, dass auch kontroverse Themen auf diesen Bühnen gespielt werden können. Sie fördert zudem den interkulturellen Austausch bei Respektierung der jeweiligen Zuwanderungserfahrungen und kulturellen Herkunft. Sie wendet sich dezidiert gegen rassistische und antisemitische Tendenzen, die ihrem inklusiven Anspruch zuwiderlaufen.

9. Engagementpolitik braucht besondere Netzwerke, die die Vielfalt der Akteurinnen und Akteure auf Augenhöhe sichtbar macht. Sie soll ihre Beiträge politisch so bündeln, dass sie öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen und Durchsetzungsmacht erreichen. Der klassische Korporatismus aus den Aufbaujahren der Bundesrepublik (West) muss durch diesen Netzwerkgedanken ergänzt oder sogar ersetzt werden.

10. Bürgerschaftliches Engagement ist in allen Feldern der Gesellschaft präsent. Aber es benötigt für seine Wirksamkeit auch nachhaltige Infrastrukturen, die diese im Alltag multifunktional und multithematisch verlässlich unterstützen. Dazu zählen Freiwilligenagenturen, Mehrgenerationenhäuser, Bürgerstiftungen, Bürgerhäuser, Soziokulturelle Zentren, Runde Tische, lokale Engagementnetzwerke usw. Hierzu müssen die entsprechenden nachhaltigen Förderinstrumente bereitstehen. Und: Bürgerschaftliches Engagement braucht in einer Umwelt mit oft komplexen Anforderungen gute Fortbildungen und Qualifizierungsmöglichkeiten, z.B. im Freiwilligenmanagement.

11. Engagementpolitik muss auf allen Ebenen, von der Kommune bis hin zur Europäischen Union, in gemeinsam mit der Zivilgesellschaft erarbeiteten Engagementstrategien sichtbar und transparent gemacht werden. Diese Engagementpolitiken (im Plural) müssen mit den besonderen zivilgesellschaftlichen Traditionen und Geschichten des jeweiligen Ortes und Kontexts sensibel umgehen, um Doppelstrukturen und Störungen zu vermeiden und Synergien zu verstärken.


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Dr. Thomas Röbke ist geschäftsführender Vorstand des Landesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement Bayern e. V. und war von 2016-2021 Vorsitzender des BBE-Sprecher*innenrates.

Kontakt: Roebke@lbe-bayern.de


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