Beitrag im Newsletter Nr. 15 vom 30.7.2020

Das Internet als Lebensraum

Jochim Selzer

Inhalt

Von der Spielwiese zur Einkaufsmeile
Staatliche Regularien
Schreckgespenst Datenschutz
Privatsphäre als Voreinstellung
Grundrechte heißen nicht umsonst so
Eine Frage des Miteinanders
Autor
Redaktion

Vielleicht hätten wir das Internet nie für alle benutzbar bauen sollen.

Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, in denen ein Telefonat nach Frankreich ernsthafte Lücken in meinen Taschengeldetat riss und es nicht nur an meinen mit »grauenhaft« noch sehr wohlwollend umschriebenen Sprachkenntnissen lag, dass beide Seiten Mühe hatten, einander zu verstehen. Heute klingt das Gespräch mit meinen Kollegen in den USA so, als säßen sie direkt neben mir. Ab Mitternacht schalte ich dann um zum Team in Malaysia, weil dort gerade die Frühschicht beginnt. Noch zu meiner Studienzeit fühlte es sich bereits aufregend an, auf einem Rechner zu arbeiten, der in einer anderen Stadt stand. Heute weiß ich bei einigen meiner Maschinen nicht einmal genau, auf welchem Kontinent sie stehen.

Die Welt ist kleiner geworden, viel kleiner, und ich finde das großartig. Natürlich fehlt der Zauber, im Usenet über Themen zu lesen, die im Analogleben erst Wochen oder Monate später ankommen, aber letztlich bin ich froh, dass geografische Distanzen an Bedeutung verloren haben und dass Grenzen keine Rolle mehr – halt.

Es gab eine Zeit, in der wir ohne zu zögern »Internet« als unsere Staatszugehörigkeit angegeben hätten, eine Zeit, in der natürlich einiges schieflief, aber trotz des bisweilen arg rauen Tons ein gewisses Grundverständnis herrschte, wie ein zivilisierter Umgang aussieht. Dieses Grundverständnis fand kondensiert in der »Hackerethik« ihren Ausdruck – eine Erklärung, die auch Jahrzehnte nach ihrem Entstehen in den Achtzigern noch frisch wirkt. Die Forderung nach freiem Zugang zu Bildung, Informationen und Kommunikation findet sich dort genauso wieder wie die Maxime, Menschen nach ihrem Handeln zu beurteilen und nicht nach Zufälligkeiten wie Hautfarben oder Geschlecht. Selbst die Forderung nach Dezentralität, die beim Design der Corona-Warn-App eine große Rolle spielte, ist Teil der Hackerethik. Schon vor dreieinhalb Jahrzehnten hatten Menschen die Gefahren erkannt, die entstehen, wenn sich zu viel Information und Macht an einer Stelle ballt. Nachdem Ende der Achtziger eine Gruppe aus dem Raum Hannover gegen Bezahlung Rechner in den USA angegriffen hatte, um dort für die Sowjetunion Daten abzusaugen, ergänzte der Chaos Computer Club die Hackerethik noch um zwei Sätze, die bis heute unser Verhältnis zu Datenschutz und Datensicherheit charakterisieren: »Mülle nicht in den Daten anderer Leute« und »Öffentliche Daten nützen, private schützen.« Moderner ausgedrückt: verantwortungsvolles Offenlegen von Sicherheitslücken (responsible disclosure) statt Sabotage, öffentliche Daten gehören der Allgemeinheit (Informationsfreiheitsgesetz, public money, public code) und Privates bleibt privat.

In meinen Augen hätten wir es bei diesen Regeln lassen können. Doch dann kam AOL. AOL brachte der Welt neben einem gigantischen Berg Plastikmüll in Form von Disketten, später CDs mit Zugangssoftware etwas eigentlich Begrüßenswertes: Internet für alle. Auf einmal tummelten sich in den bis dato beschaulichen Usenet-Foren Leute, bei denen sich die Frage stellte, wie 3,6 Milliarden Jahre Evolution derart spurlos an einigen Lebensformen vorübergehen konnten. Grundsätze wie die Hackerethik oder wenigstens die »Netiquette« galten nur noch wenig. Stattdessen fanden wir uns dabei wieder, »H4xOrboY« und »$uperL33t« zur erklären, wie »Proggies funzen«. So hatten wir uns »Information will frei sein« zwar nicht vorgestellt, aber wenn wir etwas »für alle« wollen, dürfen wir uns nicht beschweren. Am Ende nimmt hier niemand irgendwem etwas weg. Das Netz ist groß genug.

Von der Spielwiese zur Einkaufsmeile

Schmerzhafter war da schon ein anderer Preis, den wir für die steigende Beliebtheit des Netzes zu zahlen hatten: Das Ganze muss sich auch rechnen, und der herbe Charme textbasierter Usenet-Foren begeistert die Massen auf Dauer nicht. Allerdings gibt es bis heute, zwei Jahrzehnte nach Platzen der Dotcom-Blase, gerade einmal zwei erfolgreiche Methoden, im Internet Geld zu bekommen. Die eine adaptiert im Wesentlichen die Versandhauskataloge des Papierzeitalters und ist das Geschäftsmodell von Amazon. Die andere kostet die Kund*innen auf den ersten Blick nichts, sammelt mehr oder weniger offen Daten, verkauft dieses Wissen an Werbetreibende und hat Google sowie Facebook zu zwei der wertvollsten und mächtigsten Unternehmen der Welt werden lassen. Amazon und Ebay bestimmen, was es im Netz zu kaufen gibt, wer es verkaufen darf und was es kostet. Google und Facebook bestimmen, wie wir die Welt sehen. Eine Nachricht, die nicht auf der ersten Trefferseite der Suchmaschine oder in der Timeline des sozialen Netzes auftaucht, hat praktisch niemals stattgefunden.

Staatliche Regularien

Das bunte Treiben konnte natürlich nicht auf Dauer unbeobachtet an den nationalen Regierungen vorbeigehen. Entsetzt stellten sie fest, welch ungeheurer Sündenpfuhl sich aufgetan hatte: Nacktheit, Drogen, Terrorismus und (jetzt ganz tapfer sein) urheberrechtlich unzulässig verbreitete Fotos von Bockwürsten auf Porzellantellern – das konnte so nicht weitergehen. Waren den Deutschen die Naziseiten in den USA (und illegale Bockwurstfotos) ein Dorn im Auge, erregten sich die USA über Nipplegate (und illegale Bockwurstfotos). Saudi-Arabien beäugte misstrauisch das westliche Wertesystem, während China dem Kapitalismus durchaus etwas abgewinnen konnte, nicht aber Demokratie und Meinungsfreiheit. Kurz: Egal, was im weltweiten Netz kursierte, in irgendeinem Land war es immer verboten.

Kontrolle musste her, und um hierfür die gesellschaftliche Mehrheit zu finden, erfanden die politischen Internetausdrucker das wohl dümmste und gleichzeitig erfolgreichste Narrativ vom »Internet als rechtsfreien Raum« (stellen Sie sich diese Passage mit Hall sowie Blitz und Donner gesprochen vor). Dumm war es, weil das Netz noch nie rechtsfrei war. Wäre es rechtsfrei, hätten Anwälte nicht seit Mitte der Neunziger dort erfolgreich abmahnen können. Wäre es rechtsfrei, hätten deutsche Behörden es nicht bereits seit 1996 immer wieder zensiert. Es mag sein, dass sich nicht jedes (deutsche) Gesetz dort umstandslos umsetzen ließe, aber »rechtsfrei« war das Internet nie.

Schreckgespenst Datenschutz

Im Gegenteil. Einigen geht das Recht im Internet viel zu weit, vor allem dann, wenn es zur Abwechslung einmal die Rechte der Nutzer*innen stärkt. Ich kann mich noch lebhaft an das Frühjahr 2018 erinnern, als sich herumsprach, dass ein bereits vor zwei Jahren in Kraft getretenes Gesetz jetzt auch endlich umgesetzt werden sollte: die DSGVO (auch hier wieder Hall, Blitz und Donner mitdenken). Wer damals Artikel las, fühlte sich an die Szenen in den Terminator-Filmen erinnert, in denen die Maschinenwesen die Menschheit besiegt hatten, Roboter durch die Trümmerwüsten komplett zerbombter Innenstädte stapften und menschliche Schädelknochen unter ihren Füßen zermalmten. Unsere Zivilisation, so viel schien sicher, war dem Ende geweiht. Zumindest das Internet könnten wir abschalten, da ginge künftig gar nichts mehr, weil den Seitenbetreiber*innen nicht zuzumuten sei, ihren Besucher*innen zu erklären, was sie mit deren Daten anstellen.

Ganz so schlimm ist es offenbar nicht gekommen. Abgesehen von rechtlich fragwürdigen Cookiebannern und unlesbaren Datenschutzerklärungen hat sich auf den Webseiten vor allem eins getan: Die meisten von ihnen können inzwischen den Datenstrom mit HTTPS verschlüsseln – etwas, das noch Anfang 2018 als total, komplett und in jeder Hinsicht unmöglich galt, weil die Webserver die zur Verschlüsselung nötige Rechenleistung nicht aufbringen könnten. Warum also die Panik?

Weil Internet und Datenschutz noch nie besonders gut miteinander konnten. Die DSGVO brachte uns mit Begriffen wie »privacy by default« und »privacy by design« die Forderung, Technologie künftig so zu gestalten, dass Datenschutz bereits in die Konzeption mit einfließt und beim fertigen Produkt voreingestellt ist. Nehmen Sie als Beispiel die Corona-App, die unter diesen Maßgaben zustande kam. Wer die Diskussion um dieses Programm mit verfolgte, weiß aber auch: Das war keine Selbstverständlichkeit.

Privatsphäre als Voreinstellung

Das Internet und fast alle seine zentralen Anwendungen waren nicht unter der Prämisse des Datenschutzes, sondern vor allem des Funktionierens gestaltet worden. Praktisch jeder Vorgang löst einen ganzen Wust an Protokollen aus, der vor allem dazu dient, sicherzustellen, dass die Daten ankommen, dass sie korrekt ankommen, und wenn sie nicht ankommen, woran es liegt. Mit jedem Seitenaufruf breitet Ihr Browser sein ganzes Inneres vor dem Server aus – woher er kommt, was er will, welche Version er hat, auf welchem Betriebssystem er läuft, welche Zeichensätze, welche Bildschirmauflösung er beherrscht und welche Erweiterungen er installiert hat. Das alles erzählt er nicht etwa, um den Überwachungsstaat mit Informationen zu versorgen, sondern damit er die Webseite möglichst gut darstellen kann. Wenn Ihnen das nicht reicht, schauen Sie sich die Metadaten einer E-Mail an. Das Meiste davon ist überflüssig, aber wenn irgendwann einmal etwas schiefläuft, hilft es bei der Analyse.

Das Internet war nie zur Einhaltung der Privatsphäre konzipiert. Deswegen kostet es enorme Anstrengungen, sie nachträglich zu implementieren. Sehen Sie sich Anonymisierungsdienste wie Tor an, um ein Gefühl zu bekommen, wie mühsam es ist und wie viele Fragen trotz allem offen bleiben. Datenschutz war über Jahrzehnte ein Nischenthema im Netz. Umso schmerzhafter war es, als Sie sich im Jahr 2018 erstmals ernsthaft damit auseinandersetzen mussten. Das in Verbindung mit dem Damoklesschwert der im angeblich so rechtsfreien Raum ständig nach neuen Einnahmequellen suchenden Abmahnkanzleien war die perfekte Mischung für den wohl holprigsten Start, den ein Gesetz seit langem hingelegt hat.

Grundrechte heißen nicht umsonst so

Dabei ist Datenschutz eben kein Luxusproblem. Er ist nicht ein schönes Sahnehäubchen, das wir uns gönnen, nachdem wir alle wichtigen Fragen des Lebens geklärt haben. Er ist eine der Grundsäulen der Demokratie. Bereits 1983 hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Begründung zum Volkszählungsurteil hervorgehoben, dass demokratischer Diskurs und Unbeobachtetsein untrennbar zusammengehören. Am offensichtlichsten ist das bei Wahlen, bei denen Sie Ihre Stimme gar nicht offen abgeben dürfen, allein in die Kabine gehen und das Twittern des ausgefüllten Zettels sogar eine Straftat darstellt. Das ist keine Wichtigtuerei des Wahlvorstands, sondern die Lehre aus 56 Jahren Diktatur. Natürlich dürfen Sie darüber reden, wen Sie gewählt haben, aber nicht im Wahllokal und vor allem nicht so, dass sich prüfen lässt, ob Sie die Wahrheit sagen.

Natürlich lebt Demokratie davon, dass Leute aus der Anonymität heraustreten und zu ihrer Meinung stehen, aber keine Demokratie funktioniert so perfekt, dass es nicht Situationen gibt, in denen Sie Repressionen fürchten müssen, wenn Sie zu ihren verfassungsgemäßen Rechten stehen. Bis heute verweigert sich der Gesetzgeber einem wirksamen Whistleblowerschutz. Die Tönnies-Mitarbeiterin, deren Video über die Hygienezustände in der Kantine des Fleischverarbeiters auf die Kaltschnäuzigkeit hinwies, mit der die Gefahren der Corona-Pandemie ignoriert werden, damit Fleisch schön billig bleibt, bekam statt Lob für ihr couragiertes Eingreifen die fristlose Kündigung – dafür, dass sie Rechtsverstöße aufdeckte und die Allgemeinheit schützte. Mitarbeiter*innen von Flüchtlingshilfeorganisationen legen großen Wert darauf, dass ihre privaten Telefonnummern und Anschriften geheim bleiben, weil sie keine Lust auf ungebetenen Besuch haben. Alkoholsüchtige möchten nicht unbedingt, dass ihr Bekanntenkreis von ihrer Krankheit erfährt, weil sie keine dummen Sprüche hören möchten. Ja, selbst im ach so toleranten Rheinland wollen Homosexuelle und Trans-Personen anonym bleiben können, weil es im Zweifelsfall mit der Toleranz doch nicht so weit her ist. Jeder Mensch hat etwas zu verbergen, und nur selten handelt es sich dabei um etwas Ungehöriges oder gar Strafbares.

Eine Frage des Miteinanders

Leider füllen die Meisten lieber bei einer Wurzelbehandlung ihre Steuererklärung aus, als sich auch nur oberflächlich mit Datenschutz zu beschäftigen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass dieses Thema nicht als gesellschaftliche Aufgabe, sondern als Verwaltungsangelegenheit missverstanden wird. Wir denken vor allem an seitenlange, in einem furchtbaren Deutsch gehaltene Formulare, die bereits beim winzigsten Vergehen mit ewigem Höllenfeuer drohen – und das ist Quatsch. Ich beginne meine Antrittsvorträge als Datenschutzbeauftragter oft mit dem Satz, das Gesetz sei mir egal. Gesetze bräuchten wir in der Regel dann, wenn uns die Argumente ausgehen. Deswegen möchte ich lieber die Grundhaltung vermitteln, aus gegenseitigem Respekt es der jeweils anderen Seite zu überlassen, das von sich zu erzählen, was sie für richtig hält. Wer dies verinnerlicht, verhält sich schon fast automatisch gesetzeskonform und braucht nur noch ein paar Detailinformationen. Es geht nicht darum, mit Filzstiften in Fotojahrbüchern von Kindergärten Gesichter zu schwärzen, nicht darum, die Verkäuferin an der Ladentheke anzuzeigen, weil sie jemanden mit Namen anspricht und erst recht nicht darum, für jeden Quatsch Einwilligungserklärungen ausfüllen zu lassen. Es geht um Transparenz. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der ich einen Kassenbon bekomme, möchte ich von Firmen und staatlichen Einrichtungen erfahren, was sie von mir wissen und was sie damit anfangen. Ich möchte, dass Nachrichtendienste nicht mit der Behauptung durchkommen, sie zapften Satelliten an, und da oben im Weltraum gelte das Grundgesetz schließlich nicht. Ich möchte nicht, dass künftig bei jedem Internetprovider ein Gerät steht, das es Ermittlungsbehörden ermöglicht, beliebige Klartext-Datenströme mit Schadcode zu infizieren und auf diese Weise praktisch jedes Smartphone und jeden Laptop mit Spionagesoftware versehen zu können. Ich möchte, dass mich das Land, in dem ich lebe, wieder als den wahrnimmt, der ich bin: einen langweiligen Typen, der einfach in Ruhe leben will und kein potenzieller Terrorist. Ich möchte ein Internet haben, in dem die Leute vernünftig miteinander umgehen und nicht bei jedem Satz, den sie darin äußern, befürchten müssen, abgemahnt, verklagt oder gesperrt zu werden. Das Internet wird gerade von verschiedenen Lobbygruppen kaputtgefrickelt, und ich möchte es nicht mit neu aufbauen müssen. Das hat das letzte Mal schon lang genug gedauert.


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Jochim Selzer betreut hauptberuflich Webauftritte eines großen internationalen Logistikers. Ehrenamtlich engagiert er sich beim Chaos Computer Club, veranstaltet Praxisschulungen zu IT-Sicherheit, arbeitet als lokaler Datenschutzbeauftragter für verschiedene kirchliche und nicht-kirchliche Einrichtungen und gibt beim DGB-Bildungswerk sowie der IG BCE Seminare zu verschiedenen netzpolitischen Themen.

Kontakt: js@crypto.koeln


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