Beitrag im Newsletter Nr. 15 vom 30.7.2020

Wenn ich das Internet neu erfinden könnte – zwischen Utopie und Realität!

Jutta Croll

Inhalt

Freiheitsrechte und Digitalisierung
Dreißig Jahre Digitale Spaltung
Digitalisierungsschub, aber auch die Erkenntnis: So weit sind wir noch nicht!
Nachhaltig digital engagiert
Endnoten
Autorin
Redaktion

Freiheitsrechte und Digitalisierung

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 [1] verankert in Artikel 2 das Recht auf Nicht-Diskriminierung, in Artikel 19 das Recht auf Recht auf freie Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit, Artikel 20 gewährt das Recht auf Versammlung und die Vereinigungsfreiheit, Artikel 26 das Recht auf Bildung. Ausdrücklich werden diese Rechte auch Kindern in der UN-Kinderrechtskonvention [2] in den Artikeln 2, 13, 15 und 28 gewährt. Im Zuge der digitalen Transformation wird die Wahrnehmung dieser Freiheitsrechte in zunehmendem Maße mittels digitaler Medien ausgeübt. Die Frage, ob eine Versammlung im Internet oder vor Ort stattgefunden hat, ob eine Unterrichtsstunde in der Bildungseinrichtung oder als Online-Seminar durchgeführt wurde, ist in vielen Fällen nicht mehr relevant. Allerdings gibt es nach wie vor große Unterschiede im Hinblick auf den Zugang und vor allem die Kompetenzen zur Nutzung der vielfältigen Möglichkeiten, die digitale Medien und das Internet bieten. Der Digital-Index [3] der Initiative D21 meldet im Jahr 2020, 44 Prozent der Bevölkerung über 14 Jahre seien Digitale Vorreiter*innen, 38 Prozent gelten als Digital Mithaltende und 18 Prozent werden als Digital Abseitsstehende bezeichnet. Knapp 10 Mio. Menschen, die über 70 Jahre alt sind, haben bisher allenfalls geringe oder gar keine Kenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit dem Internet. Darüber hinaus belegen Studien wie die der OECD [4], dass trotz des in Deutschland flächendeckenden Zugangs zu Bildungsangeboten, Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit nicht gewährleistet sind, vielmehr haben gerade in Deutschland die sozioökonomischen Verhältnisse starken Einfluss auf den Bildungserfolg.

Dreißig Jahre Digitale Spaltung

Mit der Entwicklung des Quellcodes für das World Wide Web im Jahr 1989 durch Tim Berners-Lee, der das Internet für jede und jeden nutzbar machte, und in der Folge der Verbreitung des Internets auch außerhalb des militärischen und wissenschaftlichen Bereichs gingen weitreichende Erwartungen auf gesellschaftliche Veränderungen einher: umfassender Zugang zu Informationen für alle Bürger*innen, Verfügbarkeit von niedrigschwelligen Bildungsangeboten für breitere Bevölkerungsschichten, Verwandlung der Couch Potatoes in Prosumenten, stärkere politische Meinungs- und Willensbildung und größeres gesellschaftliches Engagement. Aber es zeigte sich schnell, dass der Zugang zum Internet und in der Folge auch das Nutzungsverhalten abhängig sind von den sozialen Verhältnissen. Ökonomische Barrieren und fehlende Kenntnisse stehen der chancengleichen Nutzung durch alle Bevölkerungsgruppen entgegen. Das Phänomen wurde unter dem Begriff der »Digitalen Spaltung« erörtert, und Maßnahmen zur Förderung der Internetnutzung und Medienkompetenz auf Ebene des Bundes, der Länder und der Kommunen wurden entwickelt und umgesetzt. Die Initiative »Schulen ans Netz« des Bundesbildungsministeriums und der Deutschen Telekom AG stattete bundesweit Schulen mit Computern und Netzanschlüssen aus, öffentliche Bibliotheken erhielten Internetzugang, um ihrem Auftrag der Vermittlung von Zugang zu Informationen gerecht zu werden, und die Stiftung Digitale Chancen baute, gefördert durch das Bundeswirtschaftsministerium, eine bis heute bestehende Datenbank der Interneterfahrungsorte auf, in der mehrere tausend öffentlich zugängliche Einrichtungen verzeichnet sind, die Internetzugang bieten und Medienkompetenz vermitteln.

Heute ist das Internet in der Hosentasche Alltagsrealität – zumindest in den jüngeren Altersgruppen. In 99 Prozent aller Haushalte, in denen Zwölf- bis 19-Jährige leben, sind Laptop und Internetanschluss vorhanden [5]. Durch die Entwicklung und Verbreitung von Smartphones und Tablets sowie mobilem Internet ist die Frage des Zugangs nahezu vollständig gelöst. Trotzdem gibt es weiterhin erhebliche Unterschiede im Nutzungsverhalten und bei den Kompetenzen. Darüber hinaus ist weder die gleichmäßige Verfügbarkeit der erforderlichen Bandbreite der Internetverbindung noch der flächendeckende Ausbau des Mobilfunknetzes in allen Regionen Deutschlands gewährleistet.

Digitalisierungsschub, aber auch die Erkenntnis: So weit sind wir noch nicht!

Wie ein Brennglas hat die Covid19-Pandemie die auch in Deutschland immer noch gravierende digitale Spaltung der Gesellschaft sichtbar gemacht. Kinder, die im Fernunterricht zu Hause versuchen, den Lernstoff zu bewältigen, in manchen Fällen mit nur einem Computer oder Tablet in einer mehrköpfigen Familie, vielleicht mit einer schwachen oder instabilen Internetverbindung; Eltern, die Home-Office und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen müssen; ältere Menschen, die abgeschnitten sind von ihrem sozialen Umfeld; und Kleinkinder, die ihre Spielplätze und Freund*innen aus der Kindertagesstätte vermissen. Dass das Bildungssystem in Deutschland bisher kaum auf digital unterstütztes Lernen eingestellt ist und schon gar nicht mit den schnellen Innovationszyklen der Digitalisierung Schritt halten kann, ist eigentlich bekannt, aber erst jetzt wird dies als ein Problem begriffen, dessen Lösung man sofort angehen muss. Technische Ausstattung in den Schulen und Unterstützung für in schwierigen sozio-ökonomischen Verhältnissen lebende Familien sind notwendig, doch das allein wird nicht für mehr Chancengerechtigkeit sorgen. Vielmehr müssen die Strukturen des Bildungssystems reflektiert und angepasst werden, um ebenso agil wie die Wirtschaft auf neue Entwicklungen reagieren zu können. Das hohe Potenzial der Digitalisierung für die Bildung und die Überwindung ungleicher Lebensverhältnisse wird zudem nur genutzt werden können, wenn neben der Bereitstellung der Infrastruktur und der technischen Ausstattung der Bildungseinrichtungen, wie sie der Bildungspakt vorsieht, auch die Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte erfolgt. Denn digitale Endgeräte und Plattformen verändern das Lernen von der frühkindlichen Erziehung in der Kita bis zur Erwachsenenbildung. Dafür braucht es neuartige Lernkonzepte, und es braucht Menschen, die bereit sind, diese Konzepte und Ideen in allen Bereichen des Lernens anzuwenden.

Nachhaltig digital engagiert

Positiv ist, dass in der durch das Corona-Virus verursachten Krise die große Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Engagements sichtbar wurde: Gemeinschaftssinn und Solidarität sind gewachsen, um dem Virus zu trotzen. Dabei haben sich gerade die neuen Formen des Engagements, die sich für die Rekrutierung von Freiwilligen, die Organisation von Hilfseinsätzen und die Kommunikation mit der Zielgruppe digitaler Medien bedienen, in der Phase des Lockdowns als besonders wertvoll erwiesen. Abstand halten ist nicht gleichbedeutend mit sozialer Distanz, wenn der Kontakt über Social Media aufrechterhalten werden kann. So ist zum Beispiel für den von der Stiftung Digitale Chancen gemeinsam mit Facebook ausgeschriebenen Smart Hero Award [6] in diesem Jahr eine Vielzahl von Projekten eingereicht worden, die spontan und innerhalb kürzester Zeit mit Hilfe von sozialen Medien Unterstützung organisiert und Angebote aufgebaut haben, um die akuten Probleme zu lösen, sei es die Entlastung von Familien mit Kindern oder die Überwindung der Isolation älterer Menschen. Gerade in der Pandemie sind aber auch bestehende Unterschiede in Bezug auf Bildungshintergrund und ökonomische Verhältnisse deutlicher sichtbar geworden, ohnehin vorhandene soziale Gräben innerhalb der Gesellschaft erscheinen vertieft.

Die Digitalisierung hat das Potenzial, die Verwirklichung der eingangs genannten Freiheitsrechte zu befördern und insbesondere Diskriminierung zu verhindern, das geschieht aber nicht von selbst. Vielmehr sind Konzepte und Strategien erforderlich, die nicht nur dazu dienen, die akute Krise zu bewältigen, sondern auch darüber hinaus nachhaltig dazu beitragen, die digitale und soziale Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Wenn ich das Internet neu erfinden könnte, wäre es nach den Prinzipen »Safety by Design« und »Accessibility by Design« so gestaltet, dass es für alle Menschen frei zugänglich und nutzbar ist, und Digitale Kompetenz gehörte selbstverständlich zu den Basiskompetenzen, die in allen Bildungskontexten vermittelt werden. Ist das eine Utopie oder bald schon Realität?


Endnoten

  1. https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (letzter Abruf 27.07.2020)
  2. https://www.bmfsfj.de/blob/93140/78b9572c1bffdda3345d8d393acbbfe8/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-data.pdf (letzter Abruf 27.07.2020)
  3. https://initiatived21.de/publikationen/d21-digital-index-2019-2020/ (letzter Abruf 27.07.2020)
  4. https://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-studie/ und https://www.oecd.org/berlin/presse/pisa-studie-2018-leistungen-in-deutschland-insgesamt-ueberdurchschnittlich-aber-leicht-ruecklaeufig-und-mit-grossem-abstand-zu-den-spitzenreitern-03122019.htm (letzter Abruf 27.07.2020)
  5. vgl. https://www.mpfs.de/studien/ (letzter Abruf 27.07.2020)
  6. https://www.smart-hero-award.de (letzter Abruf 27.07.2020)

Beitrag im Newsletter Nr. 15 vom 30.7.2020
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorin

Jutta Croll ist Vorstandsvorsitzende der Stiftung Digitale Chancen, einer gemeinnützigen Organisation unter der Schirmherrschaft des BMWi und des BMFSFJ. Sie ist verantwortlich für das auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtete Projekt Kinderschutz und Kinderrechte in der digitalen Welt. Als Wissenschaftlerin befasst sich Jutta Croll mit den Themen Medienpolitik und Mediennutzung, Förderung der Medienkompetenz und Entwicklung eines zeitgemäßen Kinder- und Jugendschutzes im Internet unter Berücksichtigung der Rechte von Kindern einerseits und aktueller technischer Entwicklungen andererseits sowie Usability und Accessibility im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, Fragen des Datenschutzes und der Nutzung von Social Media zur Förderung gesellschaftlicher Prozesse. Sie arbeitet zusammen mit dem Council of Europe, der Europäischen Kommission, der UNESCO, den Vereinten Nationen und ICANN und engagiert sich seit dem World Summit of Information Society 2003/2005 für die Belange der Internet Governance; seit 2018 ist sie Mitglied der Multistakeholder Advisory Group für das Internet Governance Forum der Vereinten Nationen.

Kontakt: jcroll(at)digitale-chancen.de

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