Beitrag im Newsletter Nr. 15 vom 29.7.2021

Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Demokratieentwicklung

Annika Schwerdt

Inhalt

Ein Bericht zur Online-Podiumsdiskussion im Rahmen des Dialogforums »Digitalisierung und Demokratie«
Geht’s noch um Demokratie oder haben wir uns bereits verloren?
Moderation, Position und Präsenz – wo ist die digitale Zivilgesellschaft?
Das Schweigen des Impressums
Autorin
Redaktion

Ein Bericht zur Online-Podiumsdiskussion im Rahmen des Dialogforums »Digitalisierung und Demokratie«

Längst schon fungieren digitale Plattformen nicht mehr nur als »Informationsbringer«, sondern – seit der Etablierung von sozialen Netzwerken und der Kommentarspalte – auch als tragende Austauschmöglichkeit verschiedener Meinungen. Durch den Schub der Digitalisierungsmöglichkeiten und das vermehrte Nutzen digitaler Methoden, nicht zuletzt durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie, wanderte auch der Dialog in den letzten Jahren und Monaten vermehrt in die digitale Sphäre. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern der bisherige analoge Dialog einen gerechten Übergang ins Digitale fand. Welche Kommunikationsentwicklungen sind zu beobachten? Was sind Strategien zur Stärkung der Demokratie? Wie wird mit demokratiefeindlichen Äußerungen wie etwa Hassrede oder Desinformation umgegangen? Auf welchen digitalen Plattformen findet sich eigentlich die engagierte Zivilgesellschaft? Und ist sie dort ausreichend präsent?

Gerade an Orten, wo Meinungen und ihre Stimmen auseinanderzulaufen drohen und eben nicht mehr in einen Dialog zu treten, braucht es vermittelnde Akteur*innen. In der analogen Welt bereiten dafür zivilgesellschaftliche Organisationen, Vereine und Verbände den Weg und die Möglichkeit, sich für gesellschaftspolitische Anliegen einzusetzen. In digitalen Netzwerken sieht dies etwas anders aus. Es ist nicht nur die Frage nach der geeigneten Plattform, sondern auch die Frage nach dem richtigen Diskussionsformat und einer angemessenen Reaktion, die neben der analogen Arbeit möglich und notwendig wird. Welchen Funktionen und Aufgaben begegnet die Zivilgesellschaft in digitalen Räumen? Welchen dieser Verantwortungen kommt sie bereits nach? Wo liegen Aktionspotenziale und aktuelle Hürden oder auch Grenzen, mit denen sich engagierte Akteur*innen konfrontiert sehen?

Um diesen Fragen näherzukommen, veranstaltete das »Forum Digitalisierung und Engagement« am 15. und 16. Juni 2021 das vierte und vorerst letzte Dialogforum. Im Rahmen des Themenschwerpunktes »Digitalisierung und Demokratie« widmete sich die Online-Podiumsdiskussion insbesondere den Fragen nach den Chancen und Risiken für die Demokratieentwicklung. Zu Gast auf dem Zoom-Podium waren Timo Reinfrank (Amadeu Antonio Stiftung), Marlene Opel (Freiwilligenagentur Leipzig), Silvia Haas (»Leipzig weiter denken«), Steven Hummel (Engagierte Wissenschaft e. V.), Martina Glass, Netzwerk für Demokratische Kultur Wurzen) und Henry Lewkowitz (Erich-Zeigner-Haus e. V.). Die Veranstaltung wurde moderiert von Dr. Serge Embacher (BBE), Leiter des »Forum Digitalisierung und Engagement«.

Geht’s noch um Demokratie oder haben wir uns bereits verloren?

Fragen über Fragen füllen den Zoom-Raum, auf den Kacheln verschiedene Gesichter vor verschiedenen Hintergründen zivilgesellschaftlichen Engagements. Schnell wird deutlich, dass es, im Verhältnis zu Präsenzformaten, allen voran in ländlichen Räumen, deutlich weniger Beteiligung an Digitalformaten und somit auch an Diskussionen gibt. »Es wird stiller im digitalen Raum«, konstatiert Martina Glass und wirft gleichzeitig die Frage auf, wie Digitalisierung trotz der meist räumlichen Distanz nahbare Netzwerke und Gemeinschaft erschaffen kann. Auch in Bildungseinrichtungen lässt sich ein erheblicher Mangel an digitalen Werkzeugen, Kompetenzen und infolgedessen auch der Lust an digitalen Möglichkeiten feststellen, so Henry Lenkowitz. Sobald die Beziehungsebene fehle, sei auch die Aktivierung von Schüler*innen zum zivilgesellschaftlichen Engagement schwieriger. Doch neben den bisher unterschätzten infrastrukturellen Voraussetzungen, die das digitale Engagement fördern können, stellt Martina Glass eine grundsätzlichere Problematik fest: Der Demokratiebegriff sei für viele junge Menschen nicht mehr ausreichend positiv konnotiert. Eher wird Demokratie als eine Art Status Quo wahrgenommen, als eine schon bestehende Errungenschaft, in die man selbst hineingeboren wurde. Die individuelle Beziehung zu eben diesem Begriff muss also grundlegend aufgearbeitet werden und sich innerhalb frühkindlicher Bildungsformate widerspiegeln, um das prodemokratische Engagement wahrscheinlicher zu machen. Die Frage, welches Zutun die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen dazu leisten kann, bleibt zunächst im Raum stehen. Wie und vor allem wo kann sich die Zivilgesellschaft sinnvoll in digitalen Medien positionieren? In diesem Zuge gilt es auch, neue Aufgaben und Ziele zu formulieren, die einer demokratiestärkenden Gemeinschaft im Netz gerecht werden.

Offline-Beziehungsarbeit hat die Zivilgesellschaft bisher gut trainiert, sagt Timo Reinfrank. Die Frage sei nun viel mehr, wie gemeinnützige Organisationen Online-Beziehungsarbeit gestalten können und müssen. Essentiell sind eben physische Räume und vor allem Momente, die im Analogen zwischen Tür und Angel geschehen. Digital gemeinsames Kaffee-Trinken oder der spielerische Umgang mit digitalen Programmen müssen etabliert werden, um Beziehungen auch im Netz aufbauen und stärken zu können, so wie dies bislang ausschließlich »offline« stattfand.

Moderation, Position und Präsenz – wo ist die digitale Zivilgesellschaft?

Angesichts der rasant wachsenden digitalen Angebote und Verwendungsmöglichkeiten, die unter dem Druck der Corona-Pandemie noch gewachsen sind, blicken engagierte Vereine und Initiativen besorgt auf die Entwicklungen in sozialen Netzwerken. Steven Hummel berichtet von etwa 500 bis 1000 Diskriminierungsvorfällen pro Jahr, die Nutzer*innen melden, wobei die dahinterliegende Dunkelziffer unbekannt bleibt. Durch sogenannte Echoräume finden Diskussionen meist nicht mehr im streitintensiven Diskurs statt, sondern immer mehr in sich selbst bestätigenden, kleineren Chatgruppen. Aufgabe der digitalen Zivilgesellschaft und ihrer Träger muss es deshalb sein, Aushandlungsräume zu schaffen und eine bessere Moderation zu übernehmen, um den demokratischen Diskurs zu stärken, so Silvia Haas. Zudem gilt es zu fragen, welche Netzwerke zur Solidarisierung gestärkt oder etabliert werden müssen, damit Betroffene besser geschützt werden und sich nicht allein in der Verantwortung wiederfinden, mit erfahrener Diskriminierung nach etwaigen Anlaufstellen und Schutzräumen zu suchen. Timo Reinfrank fordert daher eine offensivere Positionierung der Zivilgesellschaft für demokratische Werte in sozialen Netzwerken, die sich entgegen der starken Präsenz rechter Narrative aus der Defensive bewegt. Eine Positionierung, die zum einen vorbeugt und nicht erst nach geschehenen Über- und Angriffen einsetzt und zum anderen über die weitverbreitete und meist nur am Rande stehende »Netiquette« in sozialen Netzwerken hinausgeht. Dazu gehört auch der bessere Opferschutz, eine digitale Opferschutzberatung von Seiten der digitalen Zivilgesellschaft, so Reinfrank.

Neben den besorgniserregenden negativen Effekten der Digitalisierung auf den zwischenmenschlichen Meinungsaustausch und die Konsenssuche hebt Silvia Haas die großen Beteiligungschancen hervor, die mit dem. Digitalen Wandel einhergehen. »Man erreicht ganz andere Öffentlichkeiten durch den Digitalisierungsschub und damit mehr und auch andere Menschen.« Somit können an den in das Netz verlagerten politischen Diskursen potenziell auch neue Gruppen teilnehmen. Die Barrieren und Zugangsmöglichkeiten sind mittlerweile andere und bieten nebenbei auch Chancen der Diversität. Menschen können durch das schnelle Weiterleiten von Informationen, durch Hyperlinks und andere Querverweise auf immer neue Inhalte zugreifen, die analog nie so kostengünstig und divers funktionieren könnten. Wo, was und vor allem wie geteilt und erreicht wird, muss jedoch als Teil Digitaler Kompetenz bewusst sein. Welche Plattformen überhaupt aktuell sind und mit welchen Teilhabeformaten sich Nutzer*innen abholen lassen, muss ausprobiert und dann forciert werden. Dazu bedarf es neben den technischen Ressourcen die personelle Ausstattung der Zivilgesellschaft, um digital handlungsfähig zu sein, sowie eine Bund-Länder-übergreifende Zusammenarbeit bei Rechtsverstößen in sozialen Netzwerken.

Das Schweigen des Impressums

Wenn es aber solch gezielte selbstbezogene Forderungen und Selbstansprachen aus der Zivilgesellschaft gibt, scheitert das digitale Engagement dann einzig und vor allem an bisher nicht überwundenen infrastrukturellen Hürden? »Nein«, betont Marlene Opel, »vor allem kleinere Vereine und Initiativen hemmt vor allem die Impressumspflicht.« Da kleinere Vereine meist keine eigenen Büroräume und somit öffentliche Anschrift haben, gleichzeitig jedoch die Impressumspflicht besteht, seien viele daran gebunden, private Adressen anzugeben. Dadurch, so beobachtet Opel, können auch Äußerungen und Positionierungen im meist anonymen Netz gehemmt werden. Das Einsetzen und Starkmachen mancher demokratischer Werte wird daher meist nur im Stillen bejaht und nicht dort sichtbar gemacht, wo es dringend benötigt wird, nämlich auf der öffentlichen Bühne in digitalen Netzwerken.

Dass Podiumsdiskussionen nicht nur dem Austausch von Informationen und Meinungen dienen, sondern auch etwas bewirken können, machte besonders der Abschluss der Diskussion und die Reaktion des Moderators Serge Embacher deutlich. Als einbindenden und partizipativen Akt bot dieser an, eine weitere Handlungsempfehlung aus der Impressumspflicht-Problematik für kleinere Vereine zu entwickeln und diese in das gemeinsam erarbeitete Policy Paper des Forums mitaufzunehmen. Ein gutes Beispiel für die Potentiale der integrativen zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit und der gemeinschaftlichen Ausarbeitung von Rahmenbedingungen für eine digitale Zukunft. Genauso, wie es das »Forum Digitalisierung und Engagement« des BBE bei Konzeptualisierung der Dialogforen auch angestrebt hatte. Vor allem aber ist es ein Beispiel für die notwendige gegenseitige Stärkung zivilgesellschaftlicher Organisationen untereinander, um zukünftig auch selbstbewusster und mit neuen Strategien der Dialogförderung in digitalen Netzwerken ein- und aufzutreten.


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Autorin

Annika Schwerdt ist derzeit Praktikantin im Projekt »Forum Digitalisierung und Engagement« des BBE. Sie studiert an der Friedrich-Schiller-Universität Jena die Fächer Soziologie und Interkulturelle Wirtschaftskommunikation mit den Schwerpunkten innerhalb politischer und umweltbezogener Soziologie und engagiert sich im Bereich politischer Bildung beim Netzwerk für Demokratie und Courage e. V.

Kontakt: info@forum-digitalisierung.de


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