Beitrag im Newsletter Nr. 15 vom 29.7.2021

Zur Initiative ANSTOSS DEMOKRATIE

Sophie Achermann, Vinzenz Himmighofen, Patrick Müller, Andre Wolf

Inhalt

Was ist ANSTOSS DEMOKRATIE?
Warum wurde die Initiative gestartet?
Theoretische Überlegungen zum Prozess
Wo steht ANSTOSS DEMOKRATIE in diesem Prozess?
Mimikama, codetekt & alliance F entwickeln gemeinsam
Produser in den sozialen Medien
Autor*innen
Redaktion

Was ist ANSTOSS DEMOKRATIE?

ANSTOSS DEMOKRATIE hat zum Ziel, einen dezentralen Hub von und für AkteurInnen aus Politik, Zivilgesellschaft, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft in der D-A-CH-Region, also in Deutschland, Österreich und der Schweiz, aufzubauen. Dieser Hub soll die strategische Vernetzung der AkteurInnen stärken, kollektives Wirken befördern und als Ressource für die Arbeit zur Stärkung der demokratischen Kultur fungieren. Der Hub richtet sich nicht unmittelbar an Bürgerinnen und Bürger, sondern an Initiativen und Organisationen, die in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Wirkungsbereich als MultiplikatorInnen agieren. Diese AkteurInnen sollen durch den Hub gestärkt werden, indem er die Schaffung und Nutzung von Synergien unterstützt. Die InitiatorInnen dieses Vorhaben sind die ERSTE Stiftung, die Europäisches Forum Alpbach Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Stiftung Mercator Deutschland und die Stiftung Mercator Schweiz. Das International Alumni Center, eine Tochtergesellschaft der Robert Bosch Stiftung, koordiniert die vorbereitende Inkubationsphase 2021-22.

Warum wurde die Initiative gestartet?

Demokratie und demokratische Kultur werden in Deutschland vor allem aus einer nationalen Sichtweise heraus diskutiert. Daran haben weder die Globalisierung noch die über viele Jahre zunehmende Übertragung von Souveränitätsrechten an die Europäische Union etwas geändert. Die fortschreitende Digitalisierung des gesellschaftlichen Lebens liefert einen weiteren, gewichtigen Grund, diese Sichtweise hin zu einer grenzüberschreitenden zu verändern. Denn sie ermöglicht die massenhafte Verbreitung von Informationen durch potentiell jede Person auf unserem Planeten – oftmals losgelöst von effektiver nationalstaatlicher Kontrolle. Daraus hat sich auch eine Internationale der Desinformation gebildet, die zum Teil gezielt außenpolitisch genutzt und befeuert wird (Russia Today als Fernsehmedium sowie seine Präsenz in den sozialen Medien sind dafür ein prägnantes Beispiel). Das spüren Menschen, die im Fokus gesellschaftlicher Debatten stehen, ganz besonders: Bundestagsabgeordnete, BürgermeisterInnen, JournalistInnen, Geflüchtete, Frauen mit Migrationsgeschichte und/oder Medienpräsenz. Sie werden regelmäßig in der Ausübung ihrer verfassungsmäßig verbürgten Rechte angegriffen, auch physisch. Digitalisierung im Kontext von Demokratieentwicklung ist also keine rein digitale Angelegenheit, sondern manifestiert sich gerade in digital-analogen Wechselwirkungen.

Die Herausforderungen der Digitalisierung für demokratische Kultur lassen sich kaum regulatorisch auf nationaler Ebene lösen. Es werden zwar diverse Ressourcen eingesetzt, um antidemokratischen Kräften die Stirn zu bieten, doch sowohl staatliche Investitionen als auch Aktivitäten anderer gesellschaftlicher Bereiche richten sich zu oft auf (die eigenen) Teilöffentlichkeiten. Auch Mittel der politischen Bildung entfalten nicht immer die intendierte Wirkung. Es besteht also eine spürbare Nicht-Passung zwischen den Herausforderungen für demokratische Kultur und den aktuellen Antworten und Reaktionen.

ANSTOSS DEMOKRATIE hat daher zum Ziel, einen gesamtgesellschaftlich wirksamen »Hub« zu etablieren, in dem sich AkteurInnen der offenen Gesellschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz über nationale Grenzen hinweg vernetzen, zusammenarbeiten und dadurch Ansätze zur Stärkung demokratischer Kultur weiterentwickeln.

Theoretische Überlegungen zum Prozess

Es geht also darum, die strukturellen Voraussetzungen für diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit und für die Entstehung von Innovationen zu verbessern. Eine konzeptionelle Grundlage dafür bieten netzwerktheoretische Ansätze, auf Basis derer ANSTOSS DEMOKRATIE unter anderem konzipiert ist. Demnach wirkt die Inkubationsphase auf die Entstehung eines gemeinsamen Kerns hin – bislang wird dafür die Arbeitsbezeichnung »Hub« genutzt – in dem Knotenpunkte bestehender Teilnetzwerke starke Bindungen zueinander aufbauen und gleichzeitig gemeinsam eine aktivierbare Peripherie halten (Bild: 3 zu 4). Teilnetzwerke lösen sich dadurch nicht auf und verlieren auch nicht an Bedeutung, sondern treten nur stärker in Beziehung zueinander.

Grafik nach Holley/Krebs (2002-6), »Building Smart Communities Through Network Weaving« (http://www.orgnet.com/BuildingNetworks.pdf)
Grafik nach Holley/Krebs (2002-6), »Building Smart Communities Through Network Weaving« (http://www.orgnet.com/BuildingNetworks.pdf)

Die Peripherie, also AkteurInnen mit vergleichsweise wenig Verbindung zu anderen, spielt für die Innovationsfähigkeit des Netzwerks eine wichtige Rolle: Sie bringt weniger Energie auf, um das Netzwerk zu halten und hat daher mehr Ressourcen zur Verfügung, um neue Impulse in das Netzwerk hineinzutragen. Die geringere Bindung zu einem bestimmten Knotenpunkt macht AkteurInnen in der Peripherie zudem mobiler innerhalb des Netzwerks. Beides trägt dazu bei, die Wahrscheinlichkeit von Innovation zu erhöhen. Das Netzwerk ist damit auf eine gewisse Art zentral und dezentral zugleich.

Damit das gelingt, sind mehrere Aspekte erforderlich – vorausgesetzt ein möglichst vollständiger Überblick über bestehende Teilnetzwerke existiert:

  1. Die Gestaltung des Kerns (Zweck, Regeln/Prinzipien, Inhalte) muss gemeinsam mit den Knotenpunkten der Teilnetzwerke vorgenommen werden.

  2. Ein solcher Prozess ist dann besonders wirkungsvoll, wenn gleichzeitig erste Kollaborationen initiiert werden, ohne Ergebnisse im Hinblick auf den Kern vorwegzunehmen.

  3. Die Kollaborationen fungieren als Lern- und Resonanzräume, die es erleichtern, den Kern auf Basis einer gemeinsamen Empirie und unter Beteiligung unterschiedlicher Sichtweisen zu entwickeln.

  4. Dies erfordert nicht nur die Bereitschaft und Fähigkeit den Netzwerkprozess jederzeit zu verändern, sondern vor allem auch, sich in strategischer Geduld zu üben – im Netzwerkaufbau selbst und in Erwartung seiner Wirkung.

Wo steht ANSTOSS DEMOKRATIE in diesem Prozess?

Die Inkubationsphase für die Entwicklung eines ersten Kerns zur Stärkung demokratischer Kultur im deutschsprachigen Raum steht in diesem Verfahren noch am Anfang. Im Rahmen von digitalen Treffen wurden Themen und Fragestellungen identifiziert, die für den deutschen Sprachraum relevant sind und sich zur Entwicklung von ersten grenzüberschreitenden Kooperationen eignen. Durch eine Ausschreibung wurden Organisationen eingeladen, vier Fokusthemen möglichst trinational und transsektoral in einem Zeitraum von ca. 9 Monaten zu bearbeiten. Aufgrund der begrenzten Zeit können die inhaltlichen Ergebnisse nur Zwischenstände sein. Mindestens genauso wichtig sind jedoch die im Prozess entstehenden Erkenntnisse darüber, wie grenzüberschreitende und transsektorale Zusammenarbeit für demokratische Kultur funktionieren kann – ganz im Sinne des gewünschten Lern- und Resonanzraums.

Die vier Fokusthemen sind (1) Erwerb von Demokratiekompetenzen durch wenig erreichte Zielgruppen, (2) Effekte des technologischen Wandels auf demokratische Kultur, (3) Stärkung von Demokratie auf kommunaler Ebene und (4) Praxisnahe Forschung und Daten für AkteurInnen aus Politik und Zivilgesellschaft. Zum zweiten Thema ist unter anderem die Partnerschaft zwischen mimikama (AT), codetekt (DE) und alliance F (CH) entstanden, die einen gemeinsamen Entwicklungsprozess unternimmt.

Mimikama, codetekt & alliance F entwickeln gemeinsam

Alliance F hat das Projekt Stop Hate Speech initiiert. Es geht gegen Anfeindungen und Diskriminierung im Internet vor und nutzt dafür eine Verbindung von technischen und zivilgesellschaftlichen Ansätzen. Partner auf deutscher Seite ist der Verein codetect, der gegen Falschinformationen vorgeht. Bei codetect handelt es sich um ein Kollektiv von »DetektivInnen«, die ehrenamtlich und dezentral arbeiten. Als dritter Partner im Verbund konnte der Verein Mimikama aus Österreich gewonnen werden. Als Urgestein unter den Faktenprüfern hat er im Laufe der Jahre eine internationale Bekanntheit erlangt. Der mit einem Menschenrechtspreis ausgezeichnete Verein wurde bereits 2011 gegründet und hat seinen Sitz in Wien. Im Rahmen von ANSTOSS DEMOKRATIE bündeln diese drei Vereine ihre Kompetenzen in den Bereichen Fact-checking, Digital Storytelling und Kommunikationsstrategie in sozialen Medien.

Die Basis für den gemeinsamen Entwicklungsprozess bilden zwei Betrachtungen. Die erste betrifft die Rolle von Sprache in den sozialen Medien. Die D-A-CH – Region ist im Kontext sozialer Medien besonders interessant, weil sie einen grenzüberschreitenden, aber zugleich territorial verbundenen, gemeinsamen Sprachraum bildet (ausgenommen natürlich die nicht-deutschsprachigen Teile der Schweiz). Wenn die Absenderin einer Information geografisch nicht unmittelbar einzuordnen ist, dient ihre Sprache oft als nächster Orientierungspunkt. Politische Debatten können sich hier im Digitalen aufgrund der gemeinsamen Sprache also leichter vermischen. Das erhöht die Gefahr für Verzerrung und Manipulation von Diskursen. Um dieser Dynamik entgegenzuwirken, müssen demokratiestärkende Instanzen entwickelt werden, die den politischen Willensbildungsprozess fördern. Und da diskursive Manipulationen in der Gegenwart zumeist in den sozialen Medien stattfinden, müssen auch diese Instanzen dort zu finden sein.

Produser in den sozialen Medien

Hier schließt sich die zweite Betrachtung an: Soziale Medien sind die Orte der öffentlichen Diskussion geworden, in denen auch der politische Willensbildungsprozess vorangetrieben wird. Menschen können und wollen sich auf diesen Plattformen zu öffentlichen Themen äußern und kreieren damit Informationen. Gleichzeitig sind sie aber auch den Gefahren der Manipulation durch Falschmeldungen, Propaganda oder dem gezielten Einsatz von Kommunikationsstrategien ausgesetzt. Diese von vielen in den sozialen Medien aktiven Menschen ausgeübte »Doppelrolle«, bestehend aus dem Konsumieren und Produzieren von Informationen, wird Produser genannt (eine Kombination aus den englischen Production und Usage). Produser erhöhen die strukturelle Komplexität von digitalen Diskursen erheblich und versinnbildlichen, mit welcher demokratischen Verantwortung Aktivität in den sozialen Medien behaftet ist.

Während zuletzt aus guten Gründen vor allem in Meldestellen für Hasskriminalität im Netz investiert worden ist und damit auf die Usage-Seite der Produser geschaut wurde, ist der Production-Aspekt noch nicht in gleichem Maße bearbeitet – obgleich es natürlich einige Angebote zum Beispiel für Gegenrede im Netz gibt.

Hier möchten die drei PartnerInnen in ihrem Entwicklungsprozess ansetzen und in einer ersten Iteration gemeinsam mit ihren Communities (Mimikama zum Beispiel hat über 250.000 AbonnentInnen in den sozialen Medien) ein länderübergreifendes Informationsangebot im deutschsprachigen Raum zu aktuell kursierenden Desinformationen kreieren – gepaart mit Produser-freundlichen Inhalten verschiedener Formate, die Gegenrede einzeln und grenzüberschreitend im Kollektiv erleichtern. Auf diese Weise sollen auch weitere Produser für den Erhalt einer demokratischen Debattenkultur im Netz gewonnen werden. In weiteren Schritten müsste ein solches Angebot idealerweise mit Meldestellen, Beratungsangeboten und weiteren Orientierungshilfen im Netz verknüpft werden, um zugänglicher und damit wirkungsvoller zu werden. Eine derart gesamtgesellschaftlich stärker vernetzte und dauerhafte Struktur würde zudem alle Plattformbetreiber vermehrt unter Druck setzen, Faktenprüfungen, Kontosperrungen und Löschungen von Inhalten nicht länger selbst und damit privatwirtschaftlich organisiert durchzuführen, sondern dafür auf unabhängige Stellen zu setzen – und damit endlich ihrer Verantwortung für demokratische Kultur gerechter zu werden.


Beitrag im Newsletter Nr. 15 vom 29.7.2021
Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autor*innen

Sophie Achermann ist Geschäftsführerin des Schweizerischen Frauendachverbandes alliance F.

Kontakt: sophie.achermann@alliancef.ch

Vinzenz Himmighofen ist Koordinator für ANSTOSS DEMOKRATIE beim International Alumni Center (iac Berlin), einer Tochtergesellschaft der Robert Bosch Stiftung.

Kontakt: vinzenz.himmighofen@iac-berlin.org

Patrick Müller ist Mitbegründer und Technischer Direktor bei codetekt.

Kontakt: patrick@codetekt.de

Andre Wolf ist Pressesprecher sowie Content- und Social Media Coordinator bei Mimikama -Verein zur Aufklärung über Internetmissbrauch.

Kontakt: andre@mimikama.at


Redaktion

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