Beitrag im Newsletter Nr. 12 vom 18.6.2020

Rechtliche Perspektiven für eine politischere Zivilgesellschaft

Prof. Dr. Sebastian Unger

Inhalt

1. Strukturen des überkommenen Gemeinnützigkeitsrechts
2. Beschränkung der Zivilgesellschaft auf ihre Dienstleistungsfunktion
3. Perspektiven für eine politischere Zivilgesellschaft im Gemeinnützigkeitsrecht
Endnoten
Autor
Redaktion

1. Strukturen des überkommenen Gemeinnützigkeitsrechts

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die laufende Legislaturperiode verspricht die »Stärkung der Zivilgesellschaft«. Zu diesem Zweck, so heißt es dort, will man »das Gemeinnützigkeitsrecht verbessern«.[1] In Sicht ist eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts bis heute nicht. Ein Vorstoß des Bundesrates, der unter anderem darauf zielte, das arbeitsteilige Zusammenwirken gemeinnütziger Körperschaften zu erleichtern,[2] hat am Ende nicht den Weg in das Jahressteuergesetz gefunden.[3] Entsprechendes gilt für eine ganze Reihe weiterer Änderungsvorschläge, die seit den letzten größeren Reformen des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts durch das Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements vom 10.10.2007[4] und das Gesetz zur Stärkung des Ehrenamtes vom 21.3.2013[5] aus der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft an den Gesetzgeber herangetragen worden sind.

Im Kern zielen diese Vorschläge durchweg, jedenfalls aber ganz überwiegend auf eine behutsame Fortentwicklung des geltenden Gemeinnützigkeitsrechts. Dessen Strukturen gehen auf das Steueranpassungsgesetz vom 16.10.1934[6] und die Gemeinnützigkeitsverordnungen vom 16.12.1941[7] und vom 24.12.1953[8] zurück. Sie sind schließlich 1977 in die §§ 51 bis 68 der Abgabenordnung übernommen worden. Danach ist eine Körperschaft gemeinnützig, wenn sie nach ihrer Satzung und in ihrer tatsächlichen Geschäftsführung ausschließlich, unmittelbar und selbstlos einen gesetzlich als gemeinnützig anerkannten Zweck verfolgt. Der Katalog gemeinnütziger Zwecke in § 52 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung spiegelt dabei ein Bild gemeinnütziger Organisationen wider, das funktional die Entlastung des Staates in den Mittelpunkt stellt. Gemeinnützige Organisationen erhalten Steuervergünstigungen, weil sie Leistungen erbringen, die anderenfalls der Staat selbst zur Verfügung stellen müsste, an denen er aber jedenfalls ein unmittelbares politisches Interesse hat.

Dass dieses Bild nach wie vor die Vorstellungswelt des Gesetzgebers prägt, zeigt die Europäisierung des Gemeinnützigkeitsrechts. Waren ausländische Organisationen ursprünglich von gemeinnützigkeitsrechtlichen Steuervergünstigungen insgesamt ausgeschlossen, ließ sich diese Linie innerhalb des europäischen Binnenmarkts nicht dauerhaft aufrechterhalten. Folgerichtig hat der Gesetzgeber im Jahressteuergesetz 2009 vom 19.8.2008[9] unter dem Eindruck der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs den Gemeinnützigkeitsstatus für ausländische Organisationen mit Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums geöffnet. Gleichzeitig hat er die Gemeinnützigkeit bei einer Zweckverwirklichung im Ausland aber in § 51 Abs. 2 AO davon abhängig gemacht, dass entweder im Inland ansässige Personen gefördert werden oder die Zweckverwirklichung jedenfalls »auch zum Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland beitragen kann«. Diese »Abwehrstrategie«[10] trifft in erster Linie ausländische Organisationen. Der Gesetzgeber hält sie für geboten, weil »Steuervergünstigungen für gemeinnütziges Handeln und der damit verbundene Verzicht auf Steuereinnahmen nur insoweit zu rechtfertigen sind, als die geförderten gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Tätigkeiten […] einen Bezug zu Deutschland besitzen«.[11] Deutlich wird hier noch einmal, dass die §§ 51 bis 68 der Abgabenordnung nach wie vor in erster Linie von staatlichen Nützlichkeitserwägungen geprägt sind.

2. Beschränkung der Zivilgesellschaft auf ihre Dienstleistungsfunktion

Der Funktion der Zivilgesellschaft wird dieser Ansatz immer weniger gerecht. So zählen zu den in der modernen Zivilgesellschaftsforschung anerkannten »Funktionsbereichen« zivilgesellschaftlicher Organisationen über die »Dienstleistungsfunktion« hinaus unter anderem die »Themenanwaltsfunktion«, die »Wächterfunktion« und die »Deliberations- und Mitgestaltungsfunktion«.[12] Im Rechtsbegriff der »Gemeinnützigkeit« finden diese politischen Funktionsbereiche bestenfalls ansatzweise Niederschlag. Hier dominiert – wie gesehen – die Dienstleistungsfunktion. Zwar ist die Gemeinnützigkeit in der deutschen Rechtsordnung zunächst nur eine Voraussetzung für Steuervergünstigungen. Sie ist aber faktisch schon wegen ihrer Signalwirkung in die Funktion des zentralen Organisationsstatuts für zivilgesellschaftliche Organisationen hineingewachsen.[13] Folge sind Kanalisierungseffekte, die zu einer relativ unpolitischen Zivilgesellschaft führen. Diese Entwicklung ist bereits in den §§ 51 bis 68 der Abgabenordnung angelegt. Sie wird durch die Finanzgerichte und die Finanzverwaltung weiter befeuert, die – Stichwort »Attac-Urteil« – eine Einflussnahme auf die politische Willensbildung nur für gemeinnützig halten, wenn sie als Instrument eingesetzt wird, um einen im Katalog des § 52 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung aufgeführten Zweck zu fördern, und die Gesamttätigkeit der Körperschaft nicht dominiert.[14]

Zugrunde liegt diesem Zuschnitt des Gemeinnützigkeitsrechts die Überzeugung, Politik sei Sache des Staates und der mit einem Bein in der staatlichen Sphäre stehenden politischen Parteien, nicht aber der Zivilgesellschaft. Diese Überzeugung prägt nicht nur das Gemeinnützigkeitsrecht, sondern die deutsche Rechtsordnung insgesamt. So wird die Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes zwar »vom Volke« sowohl in Wahlen als auch in Abstimmungen ausgeübt. Konkrete plebiszitärdemokratische Instrumente sucht man dann aber auf Bundesebene bis heute vergebens. Ferner sind verwaltungsgerichtliche Klagen gegen Hoheitsträger in Deutschland anders als in anderen europäischen Ländern traditionell nur zulässig, wenn der Kläger eine Verletzung in eigenen Rechten geltend macht. Im Übrigen, so könnte man überspitzt formulieren, soll er sich aus der rechtlich begründeten Kritik der Verwaltung heraushalten. Verbandsklagen, die zivilgesellschaftliche Organisationen für die Durchsetzung des Rechts mobilisieren, sind vor diesem Hintergrund in der deutschen Rechtsordnung nach wie vor ein Fremdkörper.

Eine lebendige politische Zivilgesellschaft mag daher in Deutschland zwar tatsächlich existieren. Rechtliche Anerkennung findet sie aber anders als im Verfassungsrecht der Europäischen Union, das die Zivilgesellschaft in Art. 11 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union ausdrücklich als Gesprächspartner der Organe der Europäischen Union anerkennt, die mit ihr »einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog […] pflegen«, nicht.

3. Perspektiven für eine politischere Zivilgesellschaft im Gemeinnützigkeitsrecht

Geboten ist vor diesem Hintergrund eine Revision des Rechts der Zivilgesellschaft, die sie auch als politischen Akteur ernst nimmt und ihre Themenanwalts-, Wächter-, Deliberations- und Mitgestaltungsfunktion stärker entfaltet. Eine entsprechende Aufwertung der Zivilgesellschaft ist innerhalb des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts möglich. Die Gegenthese, die eine politische Betätigung gemeinnütziger Körperschaften angesichts ihrer steuerlichen Begünstigung für verfassungsrechtlich problematisch hält, überzeugt nicht.[15] Zwar zieht das Bundesverfassungsgericht einer steuerlichen Förderung politischer Parteien enge Grenzen. So darf die steuerliche Begünstigung von Zuwendungen an politische Parteien vor dem Hintergrund des Rechts auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung nicht dazu führen, dass Unterschiede zwischen den finanziellen Einflussnahmemöglichkeiten von Bürger*innen durch den Staat übermäßig vergrößert werden. Körperschaftliche Parteispenden dürfen in der Folge gar nicht und individuelle Parteispenden nur bis zu einer Höhe steuerlich gefördert werden, die für Durchschnittsbürger*innen erreichbar ist.[16] Auf zivilgesellschaftliche Organisationen, die zwar politisch tätig sind, aber anders als Parteien keinen parlamentarischen Vertretungsanspruch haben und daher nicht an Wahlen teilnehmen, sind diese Vorgaben indes nicht übertragbar. So geht auch das Grundgesetz von unterschiedlichen Funktionen politischer Parteien und politisch tätiger zivilgesellschaftlicher Organisationen im Prozess der politischen Willensbildung aus, wenn es einerseits in Art. 21 Abs. 1 Satz 3 und 4 den politischen Parteien besondere gleichheitssichernde Verpflichtungen auferlegt, andererseits aber in Art. 9 Abs. 1 des Grundgesetzes keine entsprechenden Vorgaben für politisch tätige zivilgesellschaftliche Organisationen enthält. Daraus folgt, dass der Gesetzgeber bei der steuerlichen Förderung politischen Engagements im Bereich der Zivilgesellschaft größere Spielräume hat als im Bereich der politischen Parteien.

Füllt der Gesetzgeber diese Spielräume aus, bleibt das allerdings nicht folgenlos. Auch zivilgesellschaftliche politische Betätigung bewegt sich im Kraftfeld demokratischer Gleichheit. Eine Erweiterung des politischen Bewegungsraums gemeinnütziger Organisationen muss daher mit gleichheitssichernden Vorkehrungen einhergehen. In Betracht kommen zum einen Transparenzpflichten, wie sie vor allem mit Blick auf spendensammelnde Organisationen seit langem gefordert werden.[17] So könnten nach dem Vorbild von § 25 Abs. 3 Satz 1 des Parteiengesetzes politisch tätige Körperschaften verpflichtet werden, Zuwendungen ab einer bestimmten Größenordnung öffentlich zugänglich zu dokumentieren. Denkbar sind ferner demokratische Organisationsanforderungen. Anschauungsmaterial liefert § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes. Das durchaus politische und in der Folge – Stichwort »Deutsche Umwelthilfe« – umstrittene Klagerecht anerkannter Umweltschutzvereinigungen beantwortet diese Vorschrift mit der Verpflichtung der Vereinigungen, jeder Person den Eintritt als stimmberechtigtes Mitglied zu ermöglichen, die die Ziele der Körperschaft unterstützt. Beide Instrumente – Transparenzpflichten und Organisationsanforderungen – ermöglichen Kontrolle und entschärfen ungleiche Einflussnahmemöglichkeiten.

Ein in diesem Sinne neu ausgerichtetes steuerliches Gemeinnützigkeitsrecht berücksichtigte nicht nur die Entwicklung der Zivilgesellschaft in den letzten knapp 100 Jahren, die am geltenden Gemeinnützigkeitsrecht weitgehend spurlos vorbeigegangen ist. Sie stellte auch die im Mittelpunkt der Gemeinnützigkeit stehende steuerbegünstigte Teilhabe an der Gemeinwohlverwirklichung insgesamt auf ein gleichheitsrechtlich solides Fundament.


Endnoten

[1] Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode, S. 118.

[2] Drucksache des Bundesrates 356/19 (Beschluss) vom 20.9.2019, S. 83 ff.

[3] Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (sogenanntes Jahressteuergesetz) vom 12.12.2019, BGBl. I 2019, S. 2451.

[4] BGBl. I 2007, S. 2332.

[5] BGBl. I 2013, S. 556.

[6] RGBl. I 1934, S. 925.

[7] RStBl. 1941, S. 937.

[8] BGBl. I 1953, S. 1592.

[9] BGBl. I 2008, S. 2794.

[10] So Rainer Hüttemann, Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht, 4. Aufl. 2018, Rn. 1.136.

[11] So Drucksache des Deutschen Bundestages 16/11108 vom 27.11.2008, S. 46.

[12] Rupert Graf Strachwitz/Eckhard Priller/Benjamin Triebe, Handbuch Zivilgesellschaft, 2020, S. 174 ff.

[13] Zutreffend Rainer Hüttemann, Empfiehlt es sich, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Gründung und Tätigkeit von Non-Profit-Organisationen übergreifend zu regeln?, 2018, S. G 18 f.

[14] Siehe einerseits Bundesfinanzhof, Urteil vom 20.3.2017, Az. X R 13/15, BStBl. II 2017, S. 1110, und Urteil vom 10.1.2019, Az. V R 60/17, BStBl. II 2019, 301, sowie andererseits den Anwendungserlass des Bundesfinanzministeriums zur Abgabenordnung unter Nr. 15 zu § 52 AO.

[15] Zum Folgenden ausführlich Sebastian Unger, Politische Betätigung gemeinnütziger Körperschaften, Rechtsgutachten 2020, abrufbar unter https://freiheitsrechte.org/home/wp-content/uploads/2020/05/GFF-Rechtsgutachten-Gemeinnu%CC%88tzigkeit_Prof-Unger_Mai2020.pdf (17.6.2020).

[16] Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9.4.1992, Az. 2 BvE 2/89, BVerfGE 85, 264 (315 f.).

[17] Siehe nur W. Rainer Walz, in: ders. (Hrsg.), Rechnungslegung und Transparenz im Dritten Sektor, 2004, S. 1.


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Prof. Dr. Sebastian Unger ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Wirtschafts- und Steuerrecht an der Ruhr-Universität Bochum und dort Co-Direktor des Instituts für Steuerrecht und Steuervollzug. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören Fragen der Demokratie und das Recht der Zivilgesellschaft. Er kommentiert das steuerliche Gemeinnützigkeits- und Spendenrecht in führenden Kommentaren zur Abgabenordnung und zum Einkommensteuergesetz und ist Autor eines kürzlich im Auftrag der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. erstatteten Rechtsgutachtens zur politischen Betätigung gemeinnütziger Körperschaften.

Kontakt: sebastian.unger@rub.de https://oeffentlichesrecht.rub.de


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