Beitrag im Newsletter Nr. 11 vom 2.6.2022

Bürgerschaftliches Engagement und sein Eigensinn. Der Stoff, aus dem die Demokratie ist. Einige Thesen

Roland Roth

Inhalt

Worin besteht der Eigensinn von bürgerschaftlichem Engagement?
Was hat freiwilliges Engagement mit Demokratie zu tun?
Anmerkungen zur Verfassung von Zivilgesellschaft und Demokratie in Deutschland
Endnoten
Literatur
Autor
Redaktion

Bürgerschaftliches Engagement und sein Eigensinn. Der Stoff, aus dem die Demokratie ist. Einige Thesen [1]

Worin besteht der Eigensinn von bürgerschaftlichem Engagement?

  1. Heute ist unstrittig, dass sich Engagement aus vielfältigen Motiven, individuellen Prägungen und biografischen Gelegenheiten speist. In dieser Vielfalt – ein Leitmotiv des Engagementberichts der Bundesregierung – liegt die Produktivität und Innovationskraft des Engagements. Ihr Motor ist Freiwilligkeit.
  2. Der Eigensinn des Engagements ergibt sich aus einem Bündel von Motiven der Engagierten: Spaß haben, Gemeinschaft und Geselligkeit erleben, etwas bewirken und gestalten können, Helfen, Solidarität üben, dafür auch Anerkennung finden, bei jüngeren Menschen auch sehr stark etwas lernen können. Einzelne Wünsche können auch auf andere Weise befriedigt werden (Spaß haben durch die Produkte der Unterhaltungsindustrie, Gemeinschaft und Geselligkeit am Stammtisch oder im Club, Anerkennung in der Erwerbsarbeit etc.). Es kommt beim freiwilligen Engagement offensichtlich auf die Mischung und das Zusammenspiel dieser Motive an.
  3. Eigensinn ist zunehmend mit Wünschen nach Autonomie, Partizipation und Selbstgestaltung verbunden. Der Strukturwandel scheint eindeutig: »Die neuen Freiwilligen sind partizipativer und potenzialorientierter. Sie wollen mitreden, statt nur auszuführen. Digitale Mittel geben uns die Möglichkeit, Partizipation auf eine ganz neue Ebene zu heben« (Samochowiec/Thalmann/Müller 2018).
  4. Mit staatlichen Zumutungen und ökonomischen Nutzungsversuchen ist stets zu rechnen, aber freiwillig Engagierte können durch Ausstieg und Kritik Widerstand leisten: »Menschen engagieren sich unabhängig von staatlichen Zielformulierungen und ökonomischer Verwertungslogik. Die Engagierten bestimmen selbst über den Grad der Erwartbarkeit, Verfügbarkeit und Zumutbarkeit ihres Engagements« (Engagement-Charta des Paritätischen). Organisationen, die erfolgreich auf die Mitwirkung von Freiwilligen setzen wollen, müssen ihnen deshalb eine Stimme geben und ihre innerverbandliche Demokratie stärken.

    Was hat freiwilliges Engagement mit Demokratie zu tun?
  5. Freiwilliges Engagement kann in mehreren Dimensionen Demokratie ermöglichen und stärken. Dies gilt zunächst für die Einübung von Zivilität als eine demokratische Basiskompetenz. Es geht dabei zunächst um die Erfahrung von Interessenvielfalt und eines gewaltfreien Interessenausgleichs in und zwischen selbstgewählten Gemeinschaften. Wenn es mir nicht passt, kann ich austreten oder versuchen die Organisation so zu verändern, dass ich mich wohlfühle. Dabei muss ich mich mit den Interessen und Bedürfnissen meiner Mitstreiter*innen auseinandersetzen und mache die Erfahrung, dass es vielfältige andere Initiativen und Vereine gibt (Pluralität). Eigensinn heißt in diesem Kontext Vertrauen in Selbstregulation, Gewaltverzicht, Fairness, Dialoge, Verständigungsbereitschaft, Rationalität und Kompromissfähigkeit. Zumindest bietet freiwilliges Engagement die Möglichkeit, dies in zivilgesellschaftlichen Organisationen zu lernen.
  6. Die Chance, solche demokratischen Haltungen einzuüben, ist nicht zuletzt von der Verfassung der zivilgesellschaftlichen Organisationen abhängig. Die Vereinsform z.B. bietet das rechtliche Fundament für eine gleichberechtigte Mitsprache der Mitglieder und eine verantwortliche Vereinsführung. Ob sie als solche auch genutzt und erfahren wird, ist eine offene Frage. Es muss stets mit antidemokratischen Haltungen, Initiativen und Organisationen gerechnet werden. Zivilgesellschaften sind dann stark, wenn sie solchen Tendenzen widersprechen und zur demokratischen Selbstkorrektur in der Lage sind.
  7. Demokratische Politik kommt ohne ein zivilgesellschaftliches Fundament nicht aus. In der deutschen Tradition haben wir ein breit gefächertes System der politischen Interessenvermittlung (Parteien, Verbände, Vereine, Formen anwaltschaftlicher Selbstorganisation, Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen und Proteste). Im Idealfall trägt und prägt die Zivilgesellschaft demokratische Politik, indem sie in ihrer Pluralität für Interessenartikulation, Resonanz, Verantwortlichkeit und Rechenschaftslegung Sorge trägt.
  8. Bürgerschaftliches Engagement stellt selbst eine Form der politischen Beteiligung dar, denn es geht meist darum, »im Kleinen etwas zu gestalten«. Hier ist aber der Kern jeder demokratischen Politik berührt, die auf politische Gleichheit setzt. Die Möglichkeit, etwas zu gestalten, darf kein Privileg sein. Dies bedeutet, dass jede und jeder die Gelegenheit und die dafür notwendigen Ressourcen (Zeit, Bildung, materielle Sicherheit etc.) für bürgerschaftliches Engagement haben sollte.

    Anmerkungen zur Verfassung von Zivilgesellschaft und Demokratie in Deutschland

  9. Auf den ersten Blick scheint bürgerschaftliches Engagement in Deutschland eine sichere Bank. Die Engagementquote ist vergleichsweise hoch (je nach Studie liegt sie bei 33 Prozent bis knapp 40 Prozent) und relativ stabil. Die Engagementquoten von Männern (40,2 Prozent) und Frauen (39,2 Prozent) haben sich soweit angeglichen, dass »im Jahr 2019 erstmals kein statistisch signifikanter Unterschied« (Simonson u.a. 2022: 2) festgestellt werden konnte. Auch die Unterschiede in der Engagementbeteiligung zwischen Ost- und Westdeutschland sind kleiner geworden und betragen nur noch 3,4 Prozent. Zudem reagiert das freiwillige Engagement auf neue Herausforderungen wie auf die große Zahl von Geflüchteten um das Jahr 2015. Und viele Engagierte bleiben eigensinnig am Ball. Im Jahr 2019 nennen acht Prozent aller freiwillig Engagierten Geflüchtete oder Asylsuchende als Zielgruppe ihrer aktuellen freiwilligen Tätigkeit.

  10. Aber es gibt auch deutliche Schwächen und Herausforderungen. Die Ungleichheit im Engagement wird nicht kleiner, sondern sie wächst. Aktuell engagieren sich anteilig doppelt so viele Menschen mit hoher Bildung (Engagementquote 51,1 Prozent) wie Menschen mit niedriger Bildung (26,3 Prozent). Einen ähnlichen Effekt haben die Einkommensverhältnisse. Mit den Bildungschancen werden – so scheint es – auch die Engagementchancen »vererbt«. Dass schulisches Engagement eine Domäne besser gestellter Mütter aus der Mittelschicht ist, trägt offensichtlich nicht unbedingt zur Bildungsgerechtigkeit bei.
  11. Die Angleichung der Engagementquoten zwischen Ost und West hat keine entsprechende Entwicklung in der politischen Kultur bewirkt. Das gilt z.B. für die Demokratiezufriedenheit: »Über den gesamten Zeitraum von 1991 bis Sommer 2019 hinweg war im Westen Deutschlands durchschnittlich eine klare Mehrheit von 68 % der Bürgerinnen und Bürger zufrieden, während im Osten durchschnittlich lediglich 44% zufrieden waren« (Weßels 2021: 387). Mit der AfD konnte sich in Ostdeutschland eine rechtspopulistische bzw. rechtsextreme Partei verankern, die bei Landtagswahlen meist mehr als 20 Prozent der Wahlstimmen auf sich vereint und bei diversen Streitthemen (Geflüchtete, Corona-Maßnahmen etc.) erschreckend mobilisierungsfähig ist. Es droht eine Lega Ost.
  12. Engagement darf nicht zum Lückenbüßer für Versäumnisse staatlichen Handelns werden, so lautet ein oft wiederholtes Credo. Ob und in welchem Umfang dies aber der Fall ist, wissen wir nicht. Es könnte die Freude über hohe Engagementquoten trüben. Ein eindrucksvolles Beispiel sind die 960 Tafeln in Deutschland. Ihr Motto »Lebensmittel retten. Menschen helfen« ist ebenso ehrenwert wie das breite Engagement in diesen lokalen Initiativen, die sich zudem gemeinsam mit anderen Verbänden und Gruppen für eine angemessene staatliche Unterstützung von armen Menschen einsetzen. Eine Mobilisierung der Armutsbevölkerung für ihre sozialen Rechte liegt jedoch jenseits dieser neuen Mitleidsökonomie. Vergessen wird beim Lob der Tafeln in der Regel zweierlei. Zum einen ist der Aufstieg der Tafeln in Deutschland eng mit den Folgen der Hartz-Gesetzgebung verbunden. Sie hat eine neue Klasse von Bedürftigen hervorgebracht, die seither zum »Kundenstamm« der Tafeln gehören (Hartig 2018). Zum anderen hat sich die Bundesrepublik Deutschland in mehreren völkerrechtlichen Verträgen zur Garantie der Ernährungssicherheit verpflichtet. Die Überantwortung dieser staatlichen Garantie an weitgehend private Wohltätigkeit macht Bürger*innen in skandalöser Weise zu Almosenempfänger*innen (vgl. Roß/Roth 2019: 27ff.).

    »Zeitenwende« – Aktuelle Herausforderungen
  13. Konservative wie linke Beobachter*innen sind sich in ihren Zeitdiagnosen ausnahmsweise einig. Zwei Schweizer Stimmen mögen genügen: »Wir erleben eine Super-Zeitenwende, die das 21. Jahrhundert verändern wird … Die Covid-Pandemie, das Ende der liberalen Weltordnung und der Krieg in der Ukraine markieren eine atemberaubende Kaskade von Umbrüchen.« (Eric Gujer, Chefredakteur der NZZ am 27.04.2022).
    Die jüngste Ausgabe der Schweizer Zeitschrift »Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik« (I/2022) widmet sich in einem ähnlichen Tenor der »Vermessung der Katastrophe … Die katastrophische Rede ist allgegenwärtig. Sie wäre unverständlich ohne die realen Gefahren, die das menschliche Leben, den gesamten Planeten bedrohen: Klimakrise, Armut, Hunger, Krieg und Flucht sowie eine krisenanfällige, international verflochtene Wirtschaft.«
  14. Auch in Deutschland werden soziale Sicherungen wichtiger und geraten zugleich verstärkt unter Druck (Inflation, Energie- und Mobilitätskosten). Mit Blick auf die heraufziehenden Rüstungs- und Kriegskosten scheinen die »fetten Jahre« nun vorbei. So hat z.B. der Präsident des Gemeindetags von Baden-Württemberg, Steffen Jäger, kürzlich zur »Abkehr vom Vollkaskostaat« aufgerufen, immerhin eine wichtige Stimme aus einem der reichsten Bundesländer: »Die Bürger müssten den Gürtel enger schnallen und sich von liebgewonnen Standards verabschieden«, gefordert sei eine »gesunde Eigenverantwortung« (Rhein-Neckar-Zeitung vom 28.04.2022).
  15. Als wäre dies nicht genug, ist ein Aufstieg autoritärer Regime zu beobachten. Rechtspopulistische Kräfte gewinnen längst in den westlichen Demokratien selbst an Boden (Trump, Le Pen, AfD etc.). Aus demokratischer Sicht findet in den Zivilgesellschaften ein politischer Polarisierungsprozess mit Zügen einer »Selbstvergiftung« statt, der sich an Themen wie Fluchtzuwanderung, Pandemien und anderen negativen Globalisierungsfolgen entzündet und auch die kulturellen Liberalisierungen, die Anerkennung von Vielfalt und Inklusion zurückdrängen möchte.
  16. Welche Antworten hat die Zivilgesellschaft auf die sich erst in vagen Umrissen abzeichnende Zeitenwende? Eine Rückkehr zur (alten) Normalität ist unwahrscheinlich. Unsere Vorstellungskraft und unser Selbstbewusstsein sind gefordert, wenn wir gestaltend in diese Entwicklung eingreifen wollen.

Einige Orientierungspunkte zeichnen sich ab:

  • Mehr denn je ist Zivilität ein hohes Gut. Dialog, rationale Verständigung, Verzicht auf Gewalt, Feindbilder und Wunschdenken, Anerkennung von Pluralität werden zu zivilgesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben.
  • In Zeiten der Entsicherung sind soziale Sicherungen, Kritische Infrastrukturen und öffentliche Daseinsvorsorge wichtiger denn je. Die klassischen Themen der Wohlfahrtsverbände sind in solchen Umbruchzeiten besonders aktuell.
  • Ob bei der Aufnahme von Geflüchteten, der Solidarität mit Corona-Risikogruppen oder bei der Unterstützung von Hochwasseropfern - stets hat sich gezeigt, dass die Zivilgesellschaft in Deutschland über enorme Solidaritätspotentiale verfügt, die oft in einem spontanen und ungebundenen Engagement wirksam werden. Dieses Engagement wird zu wenig anerkannt und gestaltend in die Vorsorge und Bewältigung von Krisenlagen einbezogen. Soziale Garantien und freiwilliges Engagement sind gleichermaßen gefragt, denn es geht darum, selbst unter Katastrophenbedingungen, der »neuen Normalität«, freiheitsverbürgende Handlungsspielräume und Wahlmöglichkeiten zu erhalten.
  • Auch in Krisenzeiten ist der Eigensinn eine zentrale Ressource von Engagement und unverzichtbar. Pflichtdienste sind keine Alternative. Es kommt auf Partizipation und Mitgestaltung an. Das gilt nicht zuletzt für Resilienz und Vorsorge, wie z.B. für lokale Starkregen- und Hochwasserkonzepte, Klima- oder Pandemieschutzpläne.
  • Schließlich ist das Ende der politischen Naivität gefordert. Öffentliche Engagementförderung kann nicht neutral, sondern muss demokratisch anspruchsvoll sein. »Denn Engagement richtet sich in Teilen auch gegen Demokratie, ist bewusst gegen die Vorstellung einer bunten und weltoffenen Gesellschaft adressiert, verbreitet Forderungen nach einer nationalen Abschottung oder schürt Hass gegen unterschiedliche ethnische, kulturelle, religiöse und andere Minoritäten« (Krimmer 2022: 30). Vielleicht kann die laufende Debatte über ein Demokratiefördergesetz zur Verbreitung dieser Einsicht und zur Entfaltung von wirksamen Handlungsansätzen beitragen. Es geht nicht zuletzt um demokratische Resilienz.

Endnoten

  1. Thesen eines (Online-)Vortrags zur Veranstaltungsreihe »Paritätisches Engagement« anlässlich der neuen Engagement-Charta des Paritätischen Gesamtverbands am 4. Mai 2022.

Literatur

  • Krimmer, Holger 2022: Selbstorganisationsfähigkeit stärken – Strukturwandel mitgestalten. Zur Rolle engagementfördernder Einrichtungen in der Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft. Berlin/Bonn: bagfa
  • Roß, Paul-Stefan; Roth, Roland 2019: Soziale Arbeit und bürgerschaftliches Engagement: gegeneinander – nebeneinander – miteinander? Soziale Arbeit kontrovers 20. Berlin. Deutscher Verein
  • Samochowiec, Jakub; Thalmann, L.eonie; Müller , Andreas 2018: Die neuen Freiwilligen – Die
  • Zukunft zivilgesellschaftlicher Partizipation. Migros Kulturprozent, Gesellschaft/Soziales. Rüschlikon: GDI Gottlieb Duttweiler Institut
  • Simonson, Julia; Kelle, Nadiya; Kausmann, Corinna; Tesch-Römer, Clemens (Hrsg.) 2022: Freiwilliges Engagement in Deutschland. Empirische Studien zum bürgerschaftlichen Engagement. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2019. Wiesbaden: Springer VS, S. 12-28. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35317-9.
  • Weßels, Bernhard 2021: Politische Integration und politisches Engagement, In: Statistisches Bundesamt; Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hrsg.) 2021: Datenreport 2021. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn: bpb, S. 379-385

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Prof. Dr. Roland Roth ist Politikwissenschaftler – zuletzt am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal – und war Mitglied der Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements«.

Kontakt: roland.roth1@gmx.de


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