Beitrag im Newsletter Nr. 10 vom 20.5.2020

Muslimisches Engagement – Eine Triebfeder der Zivilgesellschaft

Hacer Üstün und Yasemin Soylu

Inhalt

Religiöse Vielfalt – Herausforderungen und Potentiale für die Zivilgesellschaft
Die Rolle des bürgerschaftlichen Engagements
Autorinnen
Redaktion

Seit der Aussage des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff im Jahr 2010 flammt die Diskussion darüber, ob der Islam nun zu Deutschland gehöre oder nicht, immer wieder auf. Bundesinnenminister Horst Seehofer nahm diesbezüglich 2018 eine negierende Haltung ein, hob dabei allerdings hervor, dass Muslim*innen selbstverständlich zu Deutschland gehören. Für viele Muslim*innen ist die deutsche Identität eine Selbstverständlichkeit, weshalb sie sich als muslimische Deutsche bzw. deutsche Muslim*innen beschreiben. Diese Haltung ist auch an der rasanten Entwicklung der letzten Jahre erkennbar: Muslimisches Engagement in und für die deutsche Zivilgesellschaft hat stark zugenommen und es sind zahlreiche Initiativen entstanden, die eine große Diversität aufweisen und verdeutlichen, welch enormes Potenzial in der muslimischen »Community« steckt. Muslim*innen bringen sich in unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft, z. B. Umweltschutz, Fairtrade, Frauenrechte, Inklusion, Flüchtlingshilfe, Bildung, Aufklärungsarbeit, Kunst und Kultur, ein. Dabei schaffen sie Räume, in denen sie selbstbestimmt Themen angehen und diese – sowohl innermuslimisch als auch im Austausch mit der Gesamtgesellschaft – verhandeln und so zur gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildung beitragen. Über die Themen Migration, Integration und Prävention hinaus gestalten sie auf diese Weise den öffentlichen Diskurs mit und versuchen Antworten auf Fragen zu finden, welche die Zivilgesellschaft als Ganzes bewegen. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, dass Muslim*innen längst damit begonnen haben, sich als integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft zu verstehen.

Aus diesem Verständnis heraus haben 20 Heidelberger Muslim*innen im Jahr 2014 den Verein Teilseiend gegründet. Das Anliegen der Initiator*innen war es, ihre Stadtgesellschaft mitzugestalten und dabei eine Akademie zu etablieren, welche als muslimisch-konfessioneller Träger der politischen Bildung mithilfe von Angeboten zur Demokratieförderung Herausforderungen unserer Gesellschaft im Heute und Hier begegnet und – aus dem Glauben heraus sowie im Gespräch mit Anderen – Antworten auf diese Herausforderungen erarbeitet. Neben der Institutionalisierung und dem Aufbau eines professionellen Bildungsträgers spielt Empowerment eine wichtige Rolle: Die muslimische Zivilgesellschaft wird im Spezifischen in Verantwortung genommen, ihre Interessen selbst zu vertreten und zu artikulieren, und so an politische und gesellschaftliche Partizipation sowie Meinungsbildungsprozesse herangeführt. Ausgehend von der Fragestellung, welchen Beitrag Muslim*innen für unser gesamtgesellschaftliches Miteinander leisten, wird zivilgesellschaftliches Engagement zu einer Selbstverständlichkeit. Die Muslimische Akademie Heidelberg soll, vergleichbar mit dem Auftrag der christlichen Akademien, Wege aus der Welt des Glaubens in die Zivilgesellschaft hinein öffnen und Muslim*innen dazu anregen, die Gesellschaft mitzugestalten und Verantwortung für aktuelle Herausforderungen zu übernehmen.

Dabei versteht sich Teilseiend nicht als Migrantenselbstorganisation, sondern vertritt die Haltung, dass Muslim*innen als Teil der Zivilgesellschaft über die Themen Prävention und Migration bzw. Integration hinaus eine Verantwortung tragen und einen Beitrag für gesamtgesellschaftliche Belange leisten müssen. Hierzu zählen u. a. die Kinder- und Jugendarbeit, die historisch- und kulturell-politische Bildung sowie die merkmalsübergreifende Antidiskriminierungsarbeit.

Ausgehend von der Überzeugung, dass die Herausforderungen unserer Zeit nur gemeinsam bewältigt werden können, ist es alternativlos, dass Muslim*innen ihre Perspektiven in gesamtgesellschaftliche Debatten miteinbringen und Diskurse aktiv mitgestalten. Die plurale und offene Gesellschaft ist schon längst Realität, während die Frage, wie wir gemeinsam leben wollen, einem ständigen Aushandlungsprozess unterliegt. Zur Beantwortung dieser Frage wird die einzige Möglichkeit sein, alle Perspektiven miteinzubeziehen, um hierauf eine gute Antwort zu finden sowie die Werte einer demokratischen und gleichberechtigten Gesellschaft umzusetzen.

Religiöse Vielfalt – Herausforderungen und Potentiale für die Zivilgesellschaft

Jeder Mensch braucht einen geschützten Raum, in dem er sich selbst mit seinen Werten angenommen fühlt; einen Ort, an dem er sich nicht erklären muss, sondern all seine Energie dafür aufwenden kann, seine Ideale zu verwirklichen. Dies gilt für ein Gefühl von Heimat ebenso wie für das Aufgehoben-Sein in einer religiösen (oder weltanschaulichen) Gemeinde. Menschen haben aufgrund ihrer jeweiligen Lebenswelten und Prägungen verschiedene Bedürfnisse und benötigen daher Rückzugsorte, an denen sie sich mit Gleichgesinnten zusammenfinden können. Das gibt ihnen die Möglichkeit, sich ihrer Selbst zu vergewissern, ihre Identität zu formen und eine gefestigte Persönlichkeit zu entwickeln. Eine Gemeinde kann folglich die Basis dafür bieten, dass der Mensch seine eigenen Interessen erkennt und die Bereitschaft dazu entwickelt, sich für jene einzusetzen. Nur wer selbstsicher und entschlossen ist, wird sich über seinen gewohnten Horizont hinauswagen und für das Gemeinwohl eintreten. Religionsgemeinschaften besitzen in der Regel die Fähigkeit, auf ihre je eigene Art Menschen für deren moralische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu sensibilisieren und sie zu gemeinwohlorientiertem Engagement zu ermutigen.

Wir leben in einer pluralen Gesellschaft und die freiheitlich-demokratische Grundordnung bietet Raum für eine Vielzahl unterschiedlichster Weltanschauungen, religiöser Überzeugungen und Wertevorstellungen. Für uns Menschen besteht dabei die Herausforderung, diese Pluralität und Unterschiedlichkeit anzunehmen, Widersprüche in den Lebensvorstellungen und Praktiken der Menschen auszuhalten sowie Kontroversität zuzulassen. Im Idealfall nehmen wir die Unterschiede als Potenzial wahr, denn der Kontakt mit vielfältigen Lebens- und Wertevorstellungen befähigt schlussendlich, die eigene Position zu reflektieren, vom Gegenüber zu lernen und neue Perspektiven zu gewinnen. Vielfalt ermöglicht so die Grundlage für die Weiterentwicklung von Ideen und der Gesellschaft. Besonders spannend wird es, wenn in dieser pluralistischen Gesellschaft Allianzen geschlossen werden, welche über Unterschiede hinweg ein gemeinsames Ziel fokussieren und dieses im Bündnis miteinander angehen. Die Frage, ob wir uns als Gesellschaft aufgrund der Pluralität spalten lassen, in gegenseitiger Abschottung verharren oder dem erstarkenden Rechtspopulismus verfallen oder aber den Zusammenhalt stärken und eine plurale Demokratie leben, wird sich nicht zuletzt an unserer Bereitschaft entscheiden, über die Unterschiede hinweg in Solidarität gemeinsame Ziele zu benennen und zu erreichen.

Gerade in diesen schweren Wochen der Isolation im Zuge des Corona-Shutdown ist der Wert eines solchen solidarischen Miteinanders deutlich geworden: Etwa das abendliche Kirchenläuten sowie der Ausruf des muslimischen Gebetsrufes haben vielen Gläubigen Hoffnung, Trost und Halt gespendet. Das ist ein Beispiel dafür, dass gesellschaftliche Verbundenheit Grenzen, darunter auch religiöse, überschreiten kann.

Damit dies funktioniert, ist jedoch ein Aspekt unabdingbar, nämlich gleichberechtigte Teilhabe. Um den Konkurrenzgedanken zu überwinden, sind zwei Faktoren entscheidend: die Bereitschaft als Teil der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen und das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe. Insofern gilt es zum einen, dieses Recht einzufordern, und zum anderen, die mit diesem Recht einhergehende Verantwortung in vollem Umfang zu tragen. Um dies leisten zu können, ist es wichtig, Religion als mehr als nur die individuell gelebte Spiritualität zu verstehen, sondern auch einhergehend mit einer gesellschaftlichen Verantwortung. Diese liegt vor allem darin, das eigene Lebensumfeld stets zum Positiven zu verändern und einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Ausgehend von diesem Grundgedanken haben wir die Erfahrung gemacht, dass es immer möglich ist, tragfähige Synergien mit anderen Akteur*innen zu schaffen.

Damit dies auch weiterhin gelingt und eine lebendige Demokratie Realität wird, braucht es die konstruktive Streitkultur. Wie bereits oben erwähnt erfordert Pluralität die Fähigkeit zur Kontroversität. Daher ist das Ziel nicht, in sämtlichen Belangen und Meinungen Einigkeit zu erlangen, sondern im Austausch miteinander Aushandlungsprozesse darüber zu ermöglichen, wie wir jetzt und in Zukunft miteinander leben möchten. Dieser Prozess ist das Grundanliegen der politischen Bildungsarbeit; er fördert sowie fordert eine gewisse Urteilsfähigkeit und nimmt jeden Einzelnen insofern in Verantwortung, als dass jede*r sich eine eigene Meinung bilden muss. Durch das Abwägen verschiedener Standpunkte profiliert sich schlussendlich gesellschaftlicher Wandel. Hierbei gilt es nicht, dass alle am Ende mit den Entwicklungen zufrieden sind, sondern vielmehr, dass alle in den Diskurs miteinbezogen werden und so die Möglichkeit erhalten, sich daran zu beteiligen.

Die Muslimische Akademie Heidelberg möchte genau solch einen Raum des öffentlichen Diskurses bieten; eine Art »dritten Raum« schaffen, welcher zwischen Religiosität und Säkularität einen neutralen Ort darstellt, an dem sich unterschiedliche Stimmen und Überzeugungen begegnen, Standpunkte ausgetauscht werden, eine offene Streitkultur möglich wird, Kontroversität herrscht und wodurch eine offene und aufgeklärte Meinungsbildung zu allen Themen, die uns als Gesellschaft beschäftigen, ermöglicht wird. Nicht zuletzt soll die Akademie den Muslim*innen auch einen Ort der Selbstvergewisserung und des Rückzugs bieten, denn um überhaupt in eine offene Streitkultur gehen zu können, braucht es als Grundlage Selbstreflektion und Vergewisserung über eigene Werte sowie Standpunkte.

Die Rolle des bürgerschaftlichen Engagements

Teilseiend e. V. ist aus der Überzeugung entstanden, dass Muslim*innen einen unverzichtbaren Teil zur Gestaltung unserer Gesellschaft beitragen (müssen). Auf der grundlegenden Erkenntnis, dass sich das Lebensumfeld zum Positiven verändern soll und der Gottesdienst auch einen Dienst am Mitmenschen erfordert, haben sich die Gründungsmitglieder von Teilseiend e. V. über Jahre hinweg ehrenamtlich für ihre Stadtgesellschaft und darüber hinaus eingesetzt. Über unterschiedliche Projekte und Beiträge wirkt die Initiative mit verschiedenen Formaten der politischen Bildung in die hiesige Gesellschaft hinein. Auf Bedarfe, die selbst wahrgenommen, aber auch von außen herangetragen werden, versuchen die Gründungsmitglieder seit 2013 Angebote zu entwickeln und diese direkt auf der Handlungsebene umzusetzen. Beispiele hierfür sind auf der kommunalen und Landesebene das Interreligiöse Ferienprojekt im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit sowie die Jüdisch-Muslimischen Kulturtage im Bereich der kulturell-politischen Bildung. Auf der Bundesebene hingegen lassen sich beispielsweise die Netzwerkarbeit und der Wissenstransfer mit weiteren Akademieinitiativen im Bund nennen. Für die erfolgreiche Umsetzung dieser Programme und Projekte bedarf es dem professionellen Arbeiten und dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Insbesondere Vertrauensbildung ist ein langwieriger Prozess, welcher vom Einsatz einzelner Persönlichkeiten geprägt ist. Sobald das Vertrauen aufgebaut ist, gilt es, dieses auch zu wahren und die Beziehungen zu pflegen. Der zurückgelegte Weg wäre jedoch nicht ohne die bis heute andauernde große Opferbereitschaft und Geduld der Initiator*innen möglich gewesen: Seit dem Beginn dieser Graswurzelbewegung war jede*r Initiator*in über Jahre hinweg dazu bereit, das zivilgesellschaftliche Engagement von Teilseiend e. V. sowie die geplante Akademiegründung nicht nur ideell, sondern auch tatkräftig und finanziell zu unterstützen. Dies zeigt, was möglich ist, wenn Muslim*innen in Deutschland bereit sind, in sich selbst, in eigene Institutionen sowie in die hiesige Gesellschaft zu investieren und das bietet unheimliches Potential.

Neben dem Vertrauensaufbau bildet professionelles Arbeiten schlussendlich den Grundstein für erfolgreiche Kooperationen und Zusammenarbeit mit Dritten. So arbeiten wir heute mit zahlreichen Institutionen aus Verwaltung, Zivilgesellschaft, Kirche und Politik kommunal, landes- und bundesweit zusammen. Neben inhaltlichen Kooperationen und finanzieller Förderung ist ein weiterer unabdingbarer Bestandteil unserer Zusammenarbeit mit Anderen die gegenseitige Beratung und Unterstützung.

An dieser Stelle möchten wir daher mit einem herzlichen Dank an all unsere Wegbegleiter*innen schließen und freuen uns auf viele weitere Jahre, in denen wir gemeinsam die Gesellschaft gestalten können.


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Für den Inhalt sind die Autor*innen des jeweiligen Beitrags verantwortlich.

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Autorinnen

Hacer Üstün ist studierte islamische Theologin (M.A.) und arbeitet bei Teilseiend e. V. - Muslimische Akademie Heidelberg i. G. als Assistentin der Geschäftsführung. Yasemin Soylu studierte Ethnologie und Psychologie (B.A.) sowie Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen (M.A.). Als Studienleitung verantwortet sie bei Teilseiend e. V. - Muslimische Akademie Heidelberg i. G. den Fachbereich »Muslimische Zivilgesellschaft«.

Kontakt: info@teilseiend.de

Weitere Informationen: www.teilseiend.de


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