Beitrag in den Europa-Nachrichten Nr. 6 vom 9.7.2020

Universitäres Engagement gegen Einsamkeit und Vergessen

Katrin Bente Karl

Inhalt

Universitäres Engagement gegen Einsamkeit und Vergessen
Autorin
Redaktion

Der Wissenschaft hängt allzu oft der Nimbus an, im Elfenbeinturm Erkenntnisse zu generieren, die kaum einen Weg nach außen in die »echte« Welt finden. Dies gilt gleichermaßen für die Linguistik – der Wissenschaft von der Sprache. Häufig hört man als Germanist die Frage, warum ein Deutschsprachiger denn noch Deutsch studieren müsse, auf noch mehr Unverständnis trifft ein deutschsprachiger Mensch, der eine andere Sprache als seine Muttersprache, wie z.B. Russisch studiert: »Es gibt doch mehrere Millionen Menschen, die Russisch schon können, warum studierst du denn dann das?«

Dabei gibt es sehr viele Bereiche, in denen studierte Linguisten – egal welcher Sprache – mit ihrem sprachlichen Wissen und analytischen Verfahren etwas in der Welt verändern können und reale Bedürfnisse aus der praktischen Erfahrung in die Wissenschaft tragen oder andersherum. Gerade im Bereich der Sprache und Kultur ergeben sich viele Überschneidungen und gegenseitige Befruchtungen zwischen Anwendung und Wissenschaft, dies im Besonderen in Bereichen, in denen mehr als eine Sprache und Kultur aufeinandertreffen, wie es in unserer mehrsprachigen Gesellschaft mittlerweile alltäglich ist.

Ein solches Beispiel ist die Genese des Projektes UnVergessen, das seit dem Wintersemester 2016 an der Ruhr-Universität Bochum am Seminar für Slavistik / Lotman-Institut verankert ist. Den Ursprung nahm das Projekt, indem eine Studentin in ihrer Abschlussarbeit die sprachliche Situation einer Frau beschrieb, die als russischsprachige Demenzerkrankte in einem deutschsprachigen Pflegeheim lebte und dort keine Möglichkeit mehr hatte, ihre gewohnte Muttersprache zu sprechen. Sie wurde ausschließlich auf Deutsch gepflegt, hatte jedoch zugleich durch ihre Erkrankung ihre Deutschkenntnisse weitestgehend verloren. In dieser Arbeit wurden die daraus erwachsenden kommunikativen Herausforderungen für alle Beteiligten eindrucksvoll geschildert. Die Lektüre dieser Arbeit, die Einblicke in die tägliche sprachliche Praxis bot, setzte einen Gedankenprozess bei mir in Gang, der zunächst in der Recherche nach vergleichbaren Ergebnissen bzw. nach Zahlen vergleichbarer Schicksale mündete. Beides stellte sich als ein Unterfangen heraus, dem nicht auf normalen wissenschaftlichen Recherchewegen nachgegangen werden konnte. In den wissenschaftlichen Datenbanken fand sich damals eine sehr überschaubare Anzahl an Einträgen über Demenz und Mehrsprachigkeit allgemein, noch weniger, wenn man die Institution Pflegeheim hinzunahm und schon gar keine mehr, wenn man es auf Russisch oder eine andere slavische Sprache begrenzte. Ähnlich schwierig zeigt es sich, verlässliche Zahlen von betroffenen Personen zu erhalten. Hier stellt sich das Hindernis von zwei Seiten: Weder Sprache noch Pflegebedürftigkeit bzw. deren Ursache werden statistisch erhoben. Soviel zum Stand der Wissenschaft im Jahr 2016 – der kleine Ausschnitt aus der Praxis sprach jedoch seine so eindrückliche Sprache, dass sich ein weiterer Gedankengang anschloss: Wo sich eine betroffene Person mit einem solchen sprachlichen Schicksal findet, findet sich sicher mindestens eine zweite. Setzt man dies fort, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es eine wachsende Anzahl an mehrsprachigen Personen in Deutschland gibt, die sich ihr Leben lang in einer gelebten Mehrsprachigkeit bewegten und mit dem Eintritt in die Pflegebedürftigkeit und dem Einzug in ein Pflegeheim diese aufgeben und in einer deutsch dominierten Sprachumgebung leben müssen. Damit ergibt sich für diese Menschen nicht nur der bekanntermaßen belastende Wechsel der vertrauten Wohnumgebung sondern auch der vertrauten Sprachheimat und Kultur. Und was der Verlust der Sprache und alltäglichen Kultur bedeutet, kann wohl jeder Mensch, der einmal im Ausland gewesen ist, nachempfinden. Was er jedoch auch noch unter Krankheitsbedingungen bedeuten mag, bei denen sprachliche Fähigkeiten schrittweise verloren gehen, erscheint doppelt dramatisch. Eine solche eindrucksvolle Erkenntnis tritt in einem wissenschaftlichen Leben selten ein, doppelt schwer wiegt sie dann auch noch, wenn dies einer Linguistin klar wird – die überragende Macht der Sprache und die Tragik ihres Verlustes können kaum offensichtlicher werden.

Was aber kann nun die Wissenschaft tun, um ein solches, offensichtlich in der Praxis bestehendes Problem zu lindern? Die Wissenschaft kann natürlich zunächst beschreibend tätig werden und für eine Sichtbarkeit der Lage sorgen, daneben kann sie jedoch auch durch ihre Verankerung an der Institution Universität und der damit verbundenen Lehre neue Wege einschlagen. Warum sollte die Wissenschaft nicht versuchen, aus ihrem Elfenbeinturm herauszutreten und Sprache und Kultur in die Welt zu tragen? Die Vision, Brücken zwischen Institutionen, Generationen, Menschen, Kulturen und Sprachen zu bauen stand Pate bei der Entwicklung des Projektes UnVergessen. Im Kern steht die Idee, Studierende der Universität mit mehrsprachigem Hintergrund mit Pflegebedürftigen in Pflegeheimen zusammenzubringen, die mit den Studierenden eine gemeinsame Sprache und kulturellen Hintergrund teilen. Diese Vision konnte mit finanzieller Unterstützung der Robert Bosch Stiftung im Rahmen der Werkstatt Vielfalt erstmalig im Winter 2016 umgesetzt werden. Es fand sich eine interessierte Studierendengruppe, die als Pioniere in drei Bochumer Pflegeheimen auf Pflegebedürftige trafen und sie für die Dauer von 8 Monaten wöchentlich besuchten. Sie waren jeweils einer festen Person mit gleichem sprachlichen Hintergrund zugeordnet und verbrachten mit ihr gemeinsame Zeit, während der die pflegebedürftige Person ungeteilte Aufmerksamkeit und vor allem die z.T. einzige Gelegenheit bekam, in ihrer Muttersprache zu kommunizieren. Die Betreuungsarbeit der Studierenden wurde dabei universitär durch Seminartreffen vorbereitet, intensiv begleitet und aufgearbeitet.

Schon sehr bald zeigte sich durch die Berichte der Studierenden und durch Rückmeldungen aus den Pflegeheimen, welch immensen Auswirkungen diese Möglichkeit in der eigenen Sprache zu sprechen und Kontakt zur vertrauten Kultur zu haben für die Pflegebedürftigen hatte. Sie wurden als zufriedener und ansprechbarer beschrieben. Ein Pflegeheim sprach davon, dass die Personen »angekommen« seien und sich nun im Heim wohlfühlten, eine Pflegerin berichtete, wie eine der Pflegebedürftigen nun des Öfteren russische Lieder sänge. Zugleich stellte sich immer mehr heraus, das auch die Studierenden durch den Austausch mit einer anderen Generation, mit ihrem Erfahrungsschatz und anderem Blick auf das Leben eine Bereicherung erfuhren, die sich mit wenig anderen Erfahrungen – geschweige denn universitären – vergleichen lässt. Die Studierenden sammelten diverse Eindrücke, die sie in den Begleittreffen teilten. Über das gemeinsame Sprechen und Diskutieren entstand ein immer reicheres Bild von der Situation mehrsprachiger Pflegebedürftiger, das auf eine solche Weise noch nirgendwo festgehalten und beschrieben wurde. Nach Beendigung der ersten Projektrunde stand bei allen Beteiligten fest, dass dieses Projekt mit der dort erlebten sozialen Erfahrung und dem Eindruck der Kraft der Muttersprache und der vertrauten Kultur fortgesetzt werden muss.

Mittlerweile befindet sich das Projekt im vierten Jahr und blickt nun bereits auf vielfältige Erfahrungen und Weiterentwicklungen zurück. Es hat sich universitär etabliert und ein stabiles Netzwerk aufgebaut. Es ist curricular verankert und begleitet die teilnehmenden Studierenden über deren gesamte Teilnahmedauer am Projekt. Die Tragfähigkeit des Netzwerkes zeigte sich besonders deutlich, als im Frühjahr 2020 im Zuge der Corona-Pandemie ein Besuchs- und Kontaktverbot in allen Pflegeeinrichtungen ausgesprochen wurde. Dies erschien zunächst als drohendes und unfreiwilliges Ende des Projekts. Die persönlichen Einzelbesuche schienen auf unbestimmte Zeit nicht mehr realisierbar. Allen am Projekt Beteiligten war jedoch klar, dass es keine Option ist, auf diese unbestimmte Zeit das Projekt auszusetzen und die Kontakte womöglich abzubrechen. Vielmehr entstand der Wunsch, nun erst recht den Pflegebedürftigen und auch den Pflegeeinrichtungen zu zeigen, dass sie, trotz der Isolation, nicht vergessen sind. So begann die Suche nach alternativen Kontaktmöglichkeiten – als eine Möglichkeit erschien hier der Brief, der als Form des Austausches gerade der betroffenen Personengruppe älterer Menschen aus ihrer Vergangenheit vertraut sein sollte. Und so hielten zunächst die am Projekt UnVergessen beteiligten Studierenden über das Frühjahr 2020 durch schriftliche Grüße, selbstgebastelte Osterkarten und andere postalische Aufmerksamkeiten den Kontakt zu ihren Pflegebedürftigen.

Aus diesen Aktivitäten heraus entstand der Wunsch, eine solche Form der Kontaktaufnahme auch anderen Pflegebedürftigen zu ermöglichen. Letztlich befanden sich urplötzlich alle BewohnerInnen in einer Form der Isolation. So entwickelte sich die Idee, die Aktion mit dem Namen Briefe gegen die Einsamkeit ins Leben zu rufen, in deren Rahmen eine interessierte Person jeweils einer Person im Pflegeheim postalische Grüße schickt und ihr auf diesem Wege etwas Freude und Abwechslung bereitet. Über die sozialen Netzwerke vorrangig der Ruhr-Universität Bochum und die zahlreichen Kontakte, die sich über die Jahre der Projektarbeit ergeben haben, wurden junge Menschen aufgerufen, sich an der Aktion zu beteiligen. Als Reaktion auf diesen Aufruf erreichten uns innerhalb weniger Tage unzählige Interessensbekundungen sowohl von interessierten jungen BriefeschreiberInnen als auch aus Pflegeheimen, die uns Namen von BewohnerInnen nannten, die gerne Briefe bekommen und auf diese antworten wollten. Bis Ende Juni fanden sich 187 junge Menschen, die insgesamt 233 Pflegebedürftigen in 19 kooperierenden Pflegeheimen Briefe schreiben. Die Vermittlung und Koordination der Briefpartnerschaften läuft über das Projekt UnVergessen. Für alle interessierten TeilnehmerInnen besteht zudem die Möglichkeit, sich in einem virtuellen Raum über die Beweggründe der Teilnahme sowie die Erfahrungen und Gedanken, die im Rahmen des Briefeschreibens auftreten, auszutauschen. Viele der vermittelten Paare sind mittlerweile in einen regen schriftlichen Austausch getreten – es haben sich also, ganz im klassischen Sinne, Brieffreunde gefunden, die sich über Zeit, Raum, Pandemie, Pflegebedürftigkeit und Alter hinweg austauschen und bereits Pläne für eine Zukunft schmieden, in der ein reales Treffen hoffentlich möglich sein wird.

Die Aktion Briefe gegen die Einsamkeit und das Projekt UnVergessen sind ein deutliches Zeichen dafür, wie soziales Engagement in der Universität entstehen und herausgetragen werden kann in eine auch außeruniversitäre Gemeinschaft. Aus dieser Zusammenführung von unterschiedlichen Institutionen, Generationen, Sprachen und Kulturen erwächst ein Gewinn für alle Beteiligten. Das Engagement dieser jungen Menschen und ihre Bereitschaft, auch in schwierigen Zeiten für Andere da zu sein gestaltet unsere Welt ein Stückchen sozialer.


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Autorin

Katrin Bente Karl ist Oberstudienrätin im Hochschuldienst an der Ruhr-Universität Bochum. Sie studierte Ost- und Westslavistik sowie Germanistik an den Universitäten Hamburg, St. Petersburg und Warschau und promovierte zum russisch-deutschen Sprachkontakt. Sie lehrt und forscht am Seminar für Slavistik / Lotman-Institut im Bereich der russistischen und polonistischen Sprachwissenschaft, mit einem besonderen Fokus auf Sprachkontakt und Sprache im Alter. 2016 rief sie das Projekt UnVergessen ins Leben, in dessen Rahmen Studierende in kooperierenden Pflegeheimen mehrsprachige Pflegebedürftige besuchen und sprachlich begleiten. 2019 wurde Katrin Bente Karl mit dem Landeslehrpreis Nordrhein-Westfalen 2019 in der Kategorie »Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements« ausgezeichnet.

Kontakt: katrin.karl@rub.de


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