Beitrag im Newsletter Nr. 14 vom 16.7.2020

Konsequenzen aus der Corona-Pandemie: Erste Befunde, Strategien und Perspektiven für die Demokratiestärkung in den Ländern – Das BBE-Länderforum 2020/1

Dr. Lilian Schwalb und Dr. Behzad Fallahzadeh

Inhalt

Konsequenzen aus der Corona-Pandemie
Endnoten
Autor*innen
Redaktion

Die vergangenen Monate haben unsere Gesellschaft vor eine seit dem zweiten Weltkrieg beispiellose Herausforderung gestellt. Die Corona-Pandemie bringt mit den Einschränkungen des öffentlichen Lebens auch spürbare Auswirkungen auf das bürgerschaftliche Engagement auf der individuellen Ebene mit sich sowie, mit Blick auf verschiedenste Aspekte der Rahmenbedingungen und Handlungsoptionen gemeinnütziger Organisationen, für die organisierte Zivilgesellschaft. Die Konsequenzen für die Zivilgesellschaft aus der »Krise« sind noch nicht in Gänze absehbar. Der Begriff der »Krise« stellt indes, wie es Reinhard Koselleck formuliert hat, einen Verlaufsbegriff dar, »… der auf eine Entscheidung zuführt. Er indiziert jenen Zeitabschnitt, in dem die Entscheidung fällig, aber noch nicht gefallen ist.«[1] Mit anderen Worten: »Krisen« sind stets gesellschaftliche Umbruchszeiten, ohne dass zugleich ausgemacht ist, worin die Umbrüche münden werden. Vielmehr liegt es in der Hand aller Akteure, ob es gelingt, dass aus Umbruchzeiten auch Chancen erwachsen können.

Vor diesem Hintergrund hatte das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) in Kooperation mit der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration der Freien und Hansestadt Hamburg zum digitalen BBE-Länderforum 2020 am 19. Juni mit dem Schwerpunkt »Konsequenzen aus der Corona-Krise auf Ebene der Länder: Aktuelle Situation, erste Befunde, Strategien und Perspektiven« eingeladen. Ziel der Sitzung war es, im Kreis von staatlichen Akteuren der Engagementförderung auf Bundes- und Landesebene sowie Vertreter*innen zivilgesellschaftlicher Strukturen in den Ländern über die Konsequenzen aus der Corona-Pandemie mit dem Schwerpunkt auf aktuelle Perspektiven der Demokratiestärkung und des digitalen Wandels der Zivilgesellschaft ins Gespräch zu kommen und zu beraten.

Dass es für erfolgreiche Engagementpolitik eines zielorientierten Dialogs zwischen Zivilgesellschaft und Staat bedarf, stoße inzwischen auf breite Zustimmung, so die Moderatorin des Forums, Dr. Lilian Schwalb, Mitglied der BBE-Geschäftsführung, in ihrer Begrüßung der gut 70 Teilnehmenden. Dies verdeutliche die zunehmende Zahl entstehender Engagementstrategien in den Bundesländern, ihre stetige Weiterentwicklung und die Unerlässlichkeit der Governance von Staat und Zivilgesellschaft bei der Entwicklung und Umsetzung dieser Strategien. Auch die zunehmende Zahl der Interessierten am BBE-Länderforum und die Bereitschaft der Bundesländer, das Format in Kooperation umzusetzen, verweise auf ein geteiltes Interesse an sektorenübergreifender Strategiebildung.

Birger Hartnuß, Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, Mitglied des BBE-Sprecher*innenrats sowie Koordinator der Länder in der Bund-Länder-Kommunen-Arbeitsgruppe »Bürgerschaftliches Engagement« betonte in seinem Eröffnungsimpuls, dass das Länderforum weit mehr als ein Ort für den Austausch sei. Im Rahmen der Zusammenkunft würden sich zugleich Möglichkeiten ergeben, gemeinsame Weichenstellungen zu treffen und Vorhaben voranzubringen. Mit Blick auf die aktuelle Situation berichtete Hartnuß, dass sich erfreulicherweise in allen Bundesländern neue Formen des Engagements entwickelt hätten. Dies sei ein Zeichen für die Vitalität der Zivilgesellschaft auch in Krisenzeiten. Zugleich hätte jedoch die Pandemie die Engagementpolitik in Rheinland-Pfalz – wie sicherlich in vielen anderen Bundesländern auch – mit weitreichenden Konsequenzen für die Demokratiepolitik ›auf den Kopf gestellt‹. Es gelte folglich, einen Bogen von den konkreten Herausforderungen und Bedarfen im Zuge der Pandemie zu den grundsätzlichen Fragen der Demokratieentwicklung und -stärkung zu ziehen. Hierfür biete das BBE-Länderforum den Raum, da grundlegende Aspekte der Demokratieentwicklung, der Zusammenhang von Engagement- und Demokratiepolitik sowie Fragen von Engagement und gesellschaftlichem Zusammenhalt von Beginn an den Fokus des Forums bildeten.

Im Rahmen des Schwerpunktes der Agenda unter der Überschrift »Zivilgesellschaft im Umbruch – Strategische Befunde auf Länderebene« präsentierten Dr. Holger Krimmer, Mitglied der Geschäftsleitung des Stifterverbandes und Geschäftsführer der ZiviZ gGmbH im Stifterverband und Dr. Birthe Tahmaz, Projektleiterin der ZiViZ gGmbH im Stifterverband Ergebnisse ihrer Mitte April durchgeführten Studie »Lokal Kreativ, finanziell unter Druck, digital Herausgefordert.«, die durch die Bundesländer Bayern, Berlin, Rheinland-Pfalz und der Ehrenamtsstiftung Mecklenburg-Vorpommern gefördert wurde. Im Rahmen der Studie werden Führungskräfte aus der Zivilgesellschaft zu den Auswirkungen der Pandemie auf zivilgesellschaftliche Organisationen befragt. Auf die erste qualitative Befragungsphase werden weitere quantitative Erhebungen folgen. Wenn auch substanzielle Bereiche der Zivilgesellschaft mit massiven Problemen zu kämpfen hätten und die Konsequenzen sich erst im Zeitverlauf endgültig abschätzen ließen, so betonten Krimmer und Tahmaz insbesondere, dass die Zivilgesellschaft nicht nur ›Opfer‹ der Pandemie sei. Vielmehr zeige sich auch in dieser Krise, dass Zivilgesellschaft einen entscheidenden Beitrag zur gemeinsamen Bewältigung der aktuellen Situation leiste. Es gelte folglich, dem bürgerschaftlichen Engagement verstärkt Anerkennung zu zollen und der Zivilgesellschaft Gehör zu verschaffen, etwa im Rahmen verschiedener Dialogformate bis hin zu einem Zivilgesellschaftsgipfel im Bundeskanzleramt. Koordiniertes Vorgehen von Bund und Ländern sei unerlässlich, um längerfristige existenzbedrohende Finanzierungsnotlagen abzuwenden aber auch um die deutliche digitale Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft sinnvoll zu flankieren, Beratung und Unterstützung zu ermöglichen und fortlaufende Prozesse zu rahmen.

Die Studienergebnisse kommentierte Dr. Karin Fehres, Vorstand Sportentwicklung des DOSB, mit Blick auf die Situation der Sportvereine und -verbände. Im Anschluss an die Ergebnisse hob sie insbesondere drei Aspekte hervor: wirtschaftliche und finanzielle Konsequenzen, gesellschaftliche Folgen sowie längerfristige Konsequenzen insbesondere für mitgliederbasierte Organisationen. Die gemeinnützigkeitsrechtlichen Voraussetzungen seien unzureichend, solange es gemeinnützigen Organisationen nicht möglich sei, Rücklagen zu bilden, mit denen sie Krisen vorbeugen und die Chance der Bewältigung aus eigener Kraft erhöhen könnten. Aus dem Blick gerieten aktuell häufig die gesellschaftlichen Auswirkungen, die nicht zu unterschätzen seien, wenn soziale Bindung auf Eis gelegt und Begegnung und Integration in Sportvereinen auf unabsehbare Zeit entfielen. Sie verwies auf die Maßnahmen des DOSB zur Minderung der Auswirkungen der Pandemie auf den organisierten Sport. Die Auswirkungen, so betonte Dr. Fehres, würden erst in den kommenden Jahren deutlich werden, etwa durch den Mitgliederschwund in den Vereinen, den es gerade für die Zeit ab 2021 und auch mit Blick auf eine niedrigschwellige und unbürokratische Förderung durch Bund und Länder im Blick zu behalten gelte.

Andreas Grau, Project Manager bei der Bertelsmann Stiftung, kommentierte und ergänzte die Ergebnisse der ZiViZ-Studie mit Erkenntnissen aus einer Befragung der beteiligten Städte, Gemeinden und Kommunen im Programm »Engagierte Stadt«. Auch auf der lokalen Ebene, in den »Engagierten Städten«, zeige sich, dass die Corona-Pandemie zwar bereits Spuren hinterlasse, dass die tatsächlichen Konsequenzen jedoch erst in den kommenden Befragungsphasen in ihrer tatsächlichen Auswirkung deutlicher werden würden. Im Hinblick auf die aktuelle finanzielle Situation der Initiativen und Vereine vor Ort gaben Anfang Mai fast die Hälfte der Befragten an, dass diese unverändert sei. Projektvorhaben, persönliche Treffen, Sitzungen und Aktivitäten mussten angepasst oder verschoben werden. Ein Transfer in den digitalen Raum stelle durchaus eine Option in vielen Städten dar, sei aufgrund fehlender technischer Infrastruktur und Anwenderkenntnisse jedoch häufig erschwert. Öffentlichkeitswirksame Präsenzen bei (Groß-)Veranstaltungen vor Ort fallen weg. In manchen Städten würden Leistungen hauptamtlicher Akteure eingestellt oder gekürzt. Für die Vereine und Initiativen ist die ökonomische Situation aktuell noch nicht mehrheitlich problematisch, jedoch sieht ein Großteil der Engagierten Städte bereits in naher Zukunft eine Verschlechterung der finanziellen Situation auf sich zukommen.

Im Rahmen der anschließenden Diskussion waren sich die Teilnehmenden darüber einig, dass der aktuelle Diskurs rund um die Corona-Pandemie in entscheidendem Maße von wirtschaftlichen Aspekten dominiert sei. Mit Blick auf die Zeit ab dem kommenden Jahr werden auch für gemeinnützige Organisationen und das Engagement schmerzhafte Einschnitte erwartet, die den gesamten Bereich beträfen und Handlungserfordernisse für eine wirkungsvolle Engagementpolitik unter neuen Vorzeichen ins Feld führten. Verstärkt sollten allerdings nun die gesellschaftspolitischen Folgen mit in den Blick genommen werden. Insbesondere Potentiale der Zivilgesellschaft zur Bewältigung von Umbruchszeiten seien hervor zu heben. Zivilgesellschaft sei in diesen Zeiten eine wichtige Größe und als solche nicht nur systemrelevant, sondern vielmehr auch gesellschaftsrelevant.

Fragen der Demokratiestärkung und Engagementförderung durch die Verbesserung rechtlicher Rahmenbedingungen standen im letzten Teil der Veranstaltung zur Diskussion. In seinem Impuls betonte Birger Hartnuß, dass im Zuge der Pandemie das Bundesland Rheinland-Pfalz durch niedrigschwellige Förderung Programme der Nachbarschaftshilfe mit Kleinstbeträgen unterstützt habe. Zudem hätten einige Bundesländer einen Schutzschirm über die Zivilgesellschaft gespannt. Derweil sei es nicht gelungen, die Zukunftsperspektive in den Blick zu nehmen, um etwa Infrastruktur nachhaltig zu stabilisieren, da hierfür eine strategische Abstimmung zwischen Bund und Ländern notwendig sei. Diese fehle aktuell und dies stelle weiterhin ein großes Problem dar, wenn auch ein guter Austausch zwischen Bund und Ländern in der Krise stattgefunden habe. Es sei daher Zeit für ein Demokratiefördergesetz, das Perspektiven für die dauerhafte Sicherung von zivilgesellschaftlicher Infrastruktur biete.

PD. Dr. Ansgar Klein, Geschäftsführer des BBE, führte in seinem Impuls aus, dass durch das Kooperationsverbot hauptsächlich die Kommunen für die Förderung von zivilgesellschaftlicher Infrastruktur in der Verantwortung stünden. Würden diese – wie im Rahmen der aktuellen Krise – finanzielle Probleme erfahren, hätte dies weitreichende Konsequenzen für die Zivilgesellschaft. Es bedürfe der Aufhebung des Kooperationsverbots, damit der Bund zivilgesellschaftliche Infrastrukturen in den Ländern und Kommunen fördern kann. Zumindest hinsichtlich der Förderung der Zivilgesellschaft sollten die Bundesländer folglich der Aufhebung des Kooperationsverbots zustimmen.

Die aktuelle Situation biete, so der Tenor der anschließenden Diskussion, eine große Chance, dieses Vorhaben politisch-strategisch anzugehen und die Zivilgesellschaft nachhaltig zu stärken.

Im Zuge der Corona-Pandemie wird die relevante Rolle sowohl der Länder in der Engagementpolitik und Demokratiestärkung als auch der zivilgesellschaftlichen Strukturen der Vernetzung in den Ländern nochmals verdeutlicht, so Lilian Schwalb zum Abschluss der intensiven Diskussionen. Die Länder stellen Weichen für die Unterstützung von Engagement vor Ort gerade auch in Krisensituationen und setzen wesentliche Impulse. Die in vielen Ländern vorhandenen Landesnetzwerke ermöglichen auf Länderebene Austausch, Beratung und Strategieentwicklung. Im BBE erfahren sie als wichtige Instrumente der Politikentwicklung seit vielen Jahren besondere Aufmerksamkeit. Erst im Dialog von Ländern und zivilgesellschaftlichen Akteuren entsteht eine moderne und nachhaltige Engagementpolitik. Deshalb bringt das BBE-Länderforum die entscheidenden Akteure zusammen.

Das BBE-Länderforum bietet unter anderen Umständen regelmäßig Raum für einen intensiven persönlichen Austausch in dem geladenen Kreis der mit Fragen der Engagementförderung in den Ländern befassten Akteure und die sektorenübergreifende Vernetzung über eineinhalb Tage hinweg. Aufgrund der aktuellen Situation ist es notwendig gewesen, das Format an die Gegebenheiten virtueller Veranstaltungen anzupassen. Das diesjährige Länderforum wird deshalb in mehreren, kürzeren Terminen veranstaltet; der nächste Termin ist für den 07. Oktober 2020 vorgesehen. Wir danken unserer Kooperationspartnerin der diesjährigen Veranstaltungsreihe – der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration der Freien und Hansestadt Hamburg – und namentlich Alexandra Ziegler, Leiterin des Referats »Förderung des freiwilligen Engagements«, für ihre Flexibilität in der Umbruchzeit und für eine bereits gemeinsam anvisierte Präsenzveranstaltung im Frühjahr 2021.


Endnoten

[1] Koselleck, Reinhart 1982. »Krise«, in Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart, Stuttgart: Klett-Cotta. S. 617.


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Dr. Lilian Schwalb ist Leiterin des Bereichs Netzwerkbetreuung und -entwicklung im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) und Mitglied der BBE-Geschäftsführung.

Kontakt: lilian.schwalb@b-b-e.de


Dr. Behzad Fallahzadeh begann 2017 im BBE als Referent im Projekt »Patinnen, Mentorinnen, Lots*innen« und ist seit 2018 Referent der Netzwerkbetreuung und -entwicklung.

Kontakt: behzad.fallahzadeh@b-b-e.de


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